2015 jährt sich zum 70. Mal die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus und damit der Sieg der Alliierten über Nazideutschland. Die deutsche Volksgemeinschaft kämpfte bis zum bitteren Ende gegen die Anti-Hitler-Koalition und selbst als an allen Fronten die deutschen Linien einbrachen, arbeitete man fieberhaft am deutschen Vernichtungsprojekt: der Ausrottung der europäischen Juden. Antifaschistischer Widerstand gegen die nationalsozialistische Terrorwelt im Kerngebiet des deutschen Reiches war selten. In der Breite der deutschen Gesellschaft hat es nie eine antifaschistische Widerstandsbewegung ähnlich etwa der französischen Résistance oder jugoslawischer und italienischer Partisanenverbände gegeben. Aber jeder der wenigen antifaschistischen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus hat bewiesen, dass es möglich war. Letztlich gab es auch in unserer Region Gruppen und Netzwerke, die der faschistischen Übermacht auf vielfältige Weise die Stirn boten. Nicht wenige bezahlten diesen Kampf mit ihrem Leben.
In einer dreiteiligen Reihe über antifaschistischen Widerstand und Repression in Südthüringen unter der NS-Herrschaft wollen wir an diese Kämpferinnen und Kämpfer erinnern und ihr Andenken jenem kalten Vergessen entreißen, das das geläuterte Deutschland über jenen ausschüttet, die an die konkreten Gräuel, ihre Ursachen und die bestehenden Kontinuitäten von Drittem Reich und postnazistischer Demokratie erinnern. Im ersten Teil werden wir uns mit der Vorgeschichte befassen, von der Niederschlagung des Kapp-Putsches 1920 bis zum Machtantritt Hitlers 1933.
Am 13. März 1920 putschten der General Walter Freiherr von Lüttwitz und der Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp, in Zusammenarbeit mit dem General Erich Ludendorff gegen die wenige Monate alte Weimarer Demokratie. Unmittelbarer Anlass war die bevorstehende, im Versailler Vertrag geregelte, Auflösung von zahlreichen Reichswehrverbänden. Weil einige dieser Armeeverbände die Reduzierung des deutschen Heeres von 400.000 auf 100.000 Mann nicht hinnehmen wollten und der jungen Republik ohnehin nichts abgewinnen konnten, putschten sie gegen die Regierung aus SPD, Zentrum und DDP. Am 13. März 1920 brachten die Putschisten in Berlin Regierungsgebäude unter ihre Kontrolle. Reichskanzler Friedrich Ebert und seine sozialdemokratischen Minister flohen zunächst nach Dresden und später nach Stuttgart, wo die Lage ruhig geblieben war. Gegen den faschistischen Kapp- & Lüttwitz-Putsch erhoben sich 12 Millionen Arbeiter zum Generalstreik. Es war der größte Streik in der deutschen Geschichte – bis heute.
Einer der Kampfschwerpunkte waren in Thüringen v.a. Suhl und Gotha. Am frühen Montagmorgen des 15. März 1920 marschierte die Reichswehr in Suhl ein und nahm zunächst kampflos Bahnhof, Post und Rathaus ein. Zu ersten Kampfhandlungen kam es wenige Stunden später, als Zella-Mehliser und Suhler Arbeiterkampfverbände mit requirierten Panzerwagen zunächst Bahnhof und Post freikämpften. Über den Domberg kämpften sich Zella-Mehliser und Albrechtser Einheiten in die Stadtmitte vor und nahmen das Suhler Rathaus unter Beschuss. Noch heute steht am Rathaus in goldenen Buchstaben der alte Spruch „Im grünen Wald die rote Stadt, die ein zerschossen‘ Rathaus hat“, der genau aus jener Zeit rührt, als Arbeiterkampfverbände das von Putschisten besetzte Rathaus beschossen. Die Kämpfe dauerten 12 Stunden, dann strecken die Putschisten die Waffen.
Ein ähnliches Bild zeigte sich in Gotha. Dort hatten Streikende kurzerhand die Republik Gotha ausgerufen, die von aus Erfurt vorrückenden Reichswehr-Soldaten unter Beschuss stand. Die Gothaer Arbeiter riefen ihre Suhler Genossen zu Hilfe. Etwa 1500 Kämpfende sollen es gewesen sein, die, aus dem Raum Suhl/Zella-Mehlis kommend, in Gotha kämpften. Am 18. März waren die Putschisten geschlagen. Der Kapp- und Lüttwitz-Putsch scheiterte am Generalstreik, an der Uneinigkeit der Militärs, aber auch an der Entschlossenheit der Südthüringer Arbeiter. 72 von ihnen ließen bei den Kämpfen in Gotha ihr Leben. Noch heute erinnert ein Gedenkstein und eine jährliche Veranstaltung auf dem ehemaligen Mehliser Friedhof an die Gefallenen jener Märztage 1920.
Nach der Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches kam es im Herbst 1923 in Bayern zur Mobilisierung faschistischer Militärs, die im Hitler-Putsch gipfelte, der zwar schon in Bayern an der Uneinigkeit der Rechten scheiterte, aber für dessen Gegenwehrvorbereitungen es in (Süd-)Thüringen zwei Versionen der Geschichte gibt. Fakt ist, dass Verbände aus der Arbeiterbewegung (Kommunisten, Sozialdemokraten & Anarchosyndikalisten), unterstützt durch die Thüringische Landesregierung von Sozialdemokraten und Kommunisten proletarische Hundertschaften aufstellten und bewaffneten. Die herrschende Geschichtsschreibung, in die jene Aktion als „Deutscher Oktober“ eingegangen ist, spricht von einem kommunistischen Putschversuch gegen die Weimarer Demokratie im Sinne einer kommunistischen Revolution für ein Sowjetdeutschland. Die Kommunisten sprechen von einem „roten Sperrriegel“, der den Vormarsch der faschistischen Verbände aus Bayern unterbinden sollte. Vermutlich ist an beiden Versionen etwas dran: Den Kommunisten ging es in erster Linie darum, wie 1920, ein Übergreifen des Faschismus zu unterbinden. Sie hätten aber auch die Revolution gemacht, wären nicht 1. die Massen in Deutschland nie dazu bereit gewesen und 2. die kommunistischen Kampfverbände der Reichswehr und den faschistischen Milizen gnadenlos unterlegen gewesen. Die damalige sozialdemokratisch-kommunistische Landesregierung in Thüringen stürzte und viele Kommunisten kamen in Haft oder mussten im Nachgang Repression über sich ergehen lassen. Der Zella-Mehliser Kommunist Nikolaus Pfaff musste als Mitglied des militärischen Stabes der KPD nach 1923 untertauchen und saß schließlich von Mai 1931 bis Mai 1932 in Festungshaft wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“.
13 bzw. 10 Jahre nach der Niederschlagung von Kapp-/Lüttwitz- und Hitler-Putsches, zur Machtübernahme der Nationalsozialisten Anfang des Jahres 1933, hatten die kämpfenden Arbeiter den Faschisten nichts entscheidendes mehr entgegenzusetzen. In diesen 10–13 Jahren von 1920/23 bis 1933 müssen Veränderungen stattgefunden haben, die die Niederlage der Arbeiterklasse, d.h. ihre Selbstaufgabe, wo sie zum Faschismus sich bekannte und ihre Zerschlagung, wo sie letzten Widerstand gegen jenen leistete, gezeitigt haben. Denn dass große Teile der Arbeiterbewegung die Machtübernahme Hitler begrüßt haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass eine Minderheit der sozialistischen Arbeiterbewegung 1933, unter ihnen viele der Südthüringer Kämpfer jener Märztage 1920, in den Widerstand ging, verfolgt, interniert und ermordet wurde. Der Suhler Märzkämpfer und späteres Mitglied der Suhler Friedberg-Widerstandsgruppe Emil Recknagel beispielsweise wurde mit seiner Frau Minna, Mitglied im Suhler Verteidigungsausschuss, im Januar 1945 von den Faschisten wegen Widerstandes durch das Fallbeil hingerichtet. Auch der Vorsitzende des Suhler Verteidigungsausschusses, der Sozialdemokrat Guido Heym, wurde während der NS-Herrschaft interniert, gefoltert und kurz vor Kriegsende in einem Waldstück bei Weimar hingerichtet. Wie den Recknagels und Heym erging es vielen ehemaligen Märzkämpfern. Viele überlebten den Naziterror nicht.
Die deutsche Rechte schreckte schon während der Weimarer Republik zu keiner Zeit vor Mordanschlägen und Terror jeglicher Art zurück, beispielhaft seien nur die Morde an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht (1919) und Walther Rathenau (1922) benannt. Schon zu Beginn der jungen Demokratie und vor Gründung der NSDAP lehnten die rechten Parteien Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) die Weimarer Verfassung ab, die von den sozialistischen Parteien mitgetragen wurde. Die Wirtschaftskrise und in ihrer Folge Arbeits- und Perspektivlosigkeit wirkte wie ein Katalysator für die aufkommende Bewegung des Nationalsozialismus in ihren vielfältigen Organisationen. Nach den zwei angesprochenen größeren Putschversuchen 1920 und 1923 ging der Faschismus in Deutschland seinen Weg durch die Instanzen, unterstützt durch maßgebliche Fraktionen von Wirtschaft und Militär. Der Historiker Gerd Kaiser beschreibt die Situation so:
„Im Zeichen des Faschismus initiierten, förderten und formierten Entscheidungsträger in Schlüsselpositionen der Wirtschaft, Politik, Militär und Ideologie in den zwanziger Jahren in der Mitte der Gesellschaft Massenbewegungen, in denen Führerkult und Herrenmenschentümelei sich mit zügellosem Terror gegen jedwede parlamentarisch-demokratische und emanzipatorische Lebensform und politische Kultur paarten.“
In Thüringen fand bereits vor 1933 eine schleichende Faschisierung im Politikbetrieb statt – von Entwicklungen in der Gesellschaft ganz zu schweigen. Ab Januar 1930 waren in Thüringen Nationalsozialisten in Koalitionsregierungen an der Macht. Ab August 1932 gab es die erste rein nationalsozialistische Landesregierung unter Fritz Marschler, mit dem seit 1927 ernannten NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel als Staats- und Innenminister. Anfang des Jahres 1933 folgte das Reich bekanntlich Thüringen auf dem Weg in den Faschismus. Zur Abstimmung über Hitlers Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 im Reichstag, dem endgültigen Todesstoß für die Weimarer Verfassung, waren die 81 gewählten Abgeordneten der KPD nicht mehr anwesend, da entweder bereits in Schutzhaft oder ausgeschlossen. Mit Ausnahme der SPD stimmten alle Fraktionen für Hitler. Mit der Übernahme der Staatsgeschäfte samt diktatorischer Befugnisse verschärfte sich der nationalsozialistische Terror sprunghaft. Als seine ersten Ziele benannte Hitler die „Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie“ und die „Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel“.
Die Linken von SPD bis KPD sowie Gewerkschaften waren die letzten gewesen, die die Weimarer Demokratie gegen den Nationalsozialismus verteidigten. Die heute oft beschworene „Mitte der Gesellschaft“ und ihre Repräsentanten (etwa das Zentrum, eine Vorgängerpartei der heutigen CDU) stimmten für Hitler. Das wird heute oft vergessen oder geleugnet, wenn in Schulbüchern und anderswo die Einschnürung der Weimarer Demokratie zwischen linken und rechten Rändern beschrieben wird und vielleicht muss deswegen die Bewaffnung von proletarischen Kampfverbänden 1923, die als „Deutscher Oktober“ in die Geschichtsbücher Eingang fand, als kommunistischer Putschversuch aufgebauscht werden, weil das postnazistische Nationbuilding mit seiner Extremismusdoktrin für diese Mär Argumente braucht. Es war mitnichten so: Sozialdemokraten und Kommunisten wie auch Anarchosyndikalisten und andere linke Gruppen, Organisationen und Strömungen, untereinander tief zerstritten, waren auf parlamentarischer wie allgemein-gesellschaftlicher Ebene die letzten, die sich der Abschaffung der Weimarer Demokratie widersetzten. Sie ist durch ein Bündnis von Faschisten und Konservativen gestürzt worden bzw. ging sie, genauer gesagt, auf legale Weise in den Nationalsozialismus über, weil die Mehrheit der Repräsentanten sie abschaffen wollte.
Der Historiker Gerd Kaiser resümiert die Entwicklung in der Weimarer Republik bis zum Jahre 1933 wie folgt:
„1933 endete in Deutschland eine historisch-politische Etappe. Die Eliten formierten sich politisch neu. Die Weimarer Republik ging an ihren wesenseigenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Widersprüchen zugrunde. Bislang zumindest partiell staatstragende Schichten des Besitzbürgertums der Weimarer Republik, die diese von Anfang an nur widerwillig und auf Zeit mitgetragen hatten, ließen diese Staatsform fallen und orientierten sich gemeinsam mit jenem Teil der Eliten, der die demokratische Staatsform von Anfang an abgelehnt hatte, auf eine staatsterroristische Herrschaft des Kapitals. Der strikt antidemokratische, antikommunistische, konterrevolutionäre Führerstaat entstand auf den Trümmern der Weimarer Republik. Die sogenannten staatstragenden Schichten des Ancien Regimes waren letztendlich zu den Totengräbern dieser Staatsform geworden.“
Kaiser, und u.a. hierin liegt eine große Schwäche seines Standardwerkes über den Widerstand in Südthüringen, interpretiert den deutschen Faschismus als eine „staatsterroristische Herrschaft des Kapitals“ und blendet weitgehend die Mitwirkung und den Willen breiter Bevölkerungsschichten aus. Dabei ist das Wesen des Nationalsozialismus gerade nicht, dass er bloß von oben gesteuert war, sondern, dass er aus einer dezidiert antisemitischen Basisbewegung der Massen entstand. Teile dieser Massen rekrutierten sich aus der alten Arbeiterbewegung, die Kaiser gerne von Mitschuld freisprechen würde.
Ein nicht zu unterschätzender Faktor war neben allen genannten sicher auch die Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Fraktionen der Arbeiterbewegung, die letztlich in jene Niederlage führte, aus der nie wieder eine deutsche Arbeiterbewegung erwuchs. Die Sozialdemokratie stieß sich im Laufe der 20er Jahre von den Kommunisten ab, denen man Ambitionen zum Putsch vorwarf und als „rotlackierte Faschisten“ beschimpfte und setzte in den ersten Jahren nach der faschistischen Machtübernahme, so Kaiser, darauf, dass der Nationalsozialismus bald abwirtschaften werde, unterschätzte also das Stabilisierungspotential des faschistischen Regimes. Die deutschen Kommunisten vertraten ab 1929 nach Beschluss der Kommunistischen Internationalen eine 1924 von Grigori Sinowjew und Josef Stalin lancierte Sozialfaschismusthese, die sich die Sozialdemokratie als „linken Flügel“ bzw. als „Zwillingsbruder“ des Faschismus erklärte. Jetzt ist sicher nicht in Abrede zu stellen, dass die Geschichte der Sozialdemokratie an allen Stellen die eines Verrats an den Klasseninteressen der Werktätigen und Erwerbslosen ist, aber im Falle einer sich anbahnenden faschistischen Terrorherrschaft, wäre die von nicht wenigen Kommunisten geforderte Einheitsfront gegen Faschismus der vernünftigere Weg gewesen, denn Faschisten waren die Sozialdemokraten in ihrer Mehrzahl nicht. Die Sozialfaschismusthese wurde erst 1935 auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale verworfen. Bis dahin war sie in Deutschland ideologische Konstante der KPD-Leitung. Immerhin gelang es schon in den ersten Jahren des Widerstandes hier und da die Gräben zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zuzuschütten und gemeinsam Widerstandsaktionen zu organisieren.
Der Weg des Nationalsozialismus zur totalen Herrschaft in Deutschland ist ein Kapitel des schlimmsten Versagens der antifaschistischen Linken bzw. ihrer schlimmsten Niederlage. Ihr gelang es nicht, im Gegensatz zum Faschismus und anders als in den Jahren 1920 und 1923, die Kräfte zu bündeln und gegen die völkische Barbarei zu mobilisieren. Im zweiten Teil unserer dreiteiligen Reihe zur Geschichte des antifaschistischen Widerstandes in Südthüringen werden wir uns mit den ersten Jahres des Widerstandes von der Machterlangung der Nationalsozialisten bis zum Kriegsausbruch 1939 befassen. Dieser Teil erscheint in Ausgabe #5 der Alerta Südthüringen.
Gerd Kaiser: Auf Leben und Tod – Stille Helden im antifaschistischen Widerstand 1923 bis 1945. Edition Bodoni, Berlin, 2007.