Antifaschismus beginnt nicht bei der Sitzblockade oder bei der Recherche über Nazis und ihre Strukturen. Dass sich Menschen vielerorts unter dem Label der Antifa zu Standortschützern aufschwingen oder die Antifa als Datensammler zum Zuträger der Staatsantifa oder diverser zum selber Recherchieren zu bequemer Journalisten wurde, ist ein Missstand, der mit unserem Verständnis von Antifaschismus nicht zu vereinbaren ist.
Die Antifa will nicht die Stärkung der bestehenden Demokratie, sie verteidigt nicht die Menschenrechte, sondern kritisiert Demokratie und Menschenrechte als ephemeren Ausdruck des herrschenden Verhältnisses, seine menschelnde Fassade, hinter der sich die Gesetze der kapitalistischen Vergesellschaftung und ihre Verfallsformen umso brutaler Geltung verschaffen. Der Antifa geht es um die Stärkung kritischen Bewusstseins, das nötig sein wird, um wirksam gegen die menschenfeindliche kapitalistische Gesellschaftsordnung und ihre ideologischen Auswüchse vorzugehen.
Vielfach bleibt in den aktuellen Auseinandersetzungen mit der Naziproblematik das Verhältnis der bestehenden Gesellschaft und ihrer Ideologie zur Ideologie der Nazis ungeklärt oder man will partout nicht wahrhaben, dass die Nazis ein notwendiges Produkt der bestehenden Gesellschaft sind. Die Antifa, in unserem Verständnis, versteht die bürgerliche Gesellschaft nicht als Antipoden des Faschismus, sondern als die Bedingung seiner Möglichkeit. Das heißt mithin, dass im Ernstfall erstere gegen letzteres zu verteidigen ist. Solange aber keine faschistische Machtübernahme ins Haus steht – und selbst die AfD in ihrer derzeitigen Verfassung wird dies nicht leisten –, kann es der Antifa nicht darum gehen, die bestehende Demokratie oder die Menschenrechte zu verteidigen, weil Demokratie und Menschenrechte vielmehr Ausdruck des herrschenden Verhältnisses sind als widerständige Potentiale gegen es. Der Antifa muss es um die Stärkung kritischen, also radikal aufklärerischen Bewusstseins sowie um theoretisch zu begründende praktische Interventionen gegen die menschenfeindliche kapitalistische Gesellschaftsordnung gehen. Last but not least geht es in Zeiten von PEGIDA, AfD und den mit diesen Erscheinungen einhergehenden Angriffen auf Geflüchtete auch um das vom bürgerlichen Mainstream der Antifa zugeordnete „Kerngeschäft“: um den – aber eben nicht idealistisch zu beweihräuchernden – Schutz der eigenen Strukturen und jener Menschen, die den Nazis und ihrer Vorläufern am schutzlosesten ausgeliefert sind.
Im anschließenden Mehrteiler, der sich der Frage widmet, was aus radikal-gesellschaftskritischer Perspektive Antifa eigentlich bedeutet, geht es um die Voraussetzungen und Möglichkeiten der zuletzt umrissenen Praxis. Der in dieser Ausgabe der Alerta Südthüringen vorliegende erste von voraussichtlich vier Teilen beschäftigt sich mit dem zugrunde liegenden Begriff der Gesellschaft und der Einbettung des Naziproblems in seinen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang.
Wie unlängst aufgefallen sein dürfte, vertritt die Redaktion dieser Zeitschrift ein spezielles Verständnis von Antifa. Dieses Verständnis ist nicht aus irgendeinem Lehrbuch entnommen, sondern es entstand entlang theoretischer wie praktischer Auseinandersetzungen, die wir die letzten Jahre geführt haben. Es ist kein endgültiges, feststehendes, keine Doktrin, sondern orientiert sich am abzuschaffenden Gegenstand, also am gegenwärtigen Nazismus samt seiner Wurzeln.
Dieser Nazismus – und das ist entscheidend – hat seine Wurzeln, seine Entstehungsbedingungen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Normalität, deswegen – das sei an dieser Stelle vorweg genommen – ist der Versuch, ihn innerhalb dieser Gesellschaftsordnung zu beseitigen zum Scheitern verurteilt. Der Nazismus, die Naziideologie ist kein der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer kapitalistischen Verkehrsweise opponierendes bzw. entgegengesetztes oder äußerliches, sondern er ist vielmehr ihr logisches Produkt. Naziideologie ist in ihrem Wesen eine radikalisierte Form bürgerlicher Ideologie, ihre Krisenform.
Zunächst wird es also in kurzer und gestraffter Form um die gesellschaftlichen Verhältnissen gehen, in denen wir leben. Unsere Analyse orientiert sich theoretisch an der Weiterentwicklung der Marx‘schen materialistischen Gesellschaftstheorie durch die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos.
Gesellschaft bzw. die objektiven Verhältnisse werden in der materialistischen Gesellschaftstheorie Adornos und Horkheimers verstanden als brüchige Totalität. Brüchige Totalität meint also ein weitgehend geschlossenes, alle Lebensbereiche durchdringendes System gesellschaftlich verordneter Normen und Verhaltensweisen, das dort brüchig ist, wo die Menschen die Abrichtung in diesem System als Leiden erfahren und empfinden. Diese Totalität der Verhältnisse ist zum einen gekennzeichnet durch einen „Vorrang des Objekts“, das heißt durch der Reflexion über sie vorgängige materielle Verhältnisse, die sich im Einzelnen einschreiben und die zum anderen eine Ohnmacht des Subjekts bedingen, von der sich zu emanzipieren äußerster Mühe bedarf und die überhaupt nur im Denken zu überwinden ist, solange die vorgängigen materiellen Verhältnisse nicht aufgehoben sind. Solche Totalität ist nicht mehr, wie die vorkapitalistischen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, geprägt durch persönliche Abhängigkeiten, sondern durch eine sachlich vermittelte Herrschaft eines anonymen Vergesellschaftungsmodus entlang der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie. Die Warenwirtschaft, deren Analyse äußerst zentral ist, die hier aber weitgehend ausgelassen bzw. vorausgesetzt werden muss, legt also die allgemeinen Bedingungen fest unter denen der Austausch in dieser Gesellschaft nach dem bereits von Marx analysierten Wertgesetz stattfindet.
Diese Gesellschaftsordnung bringt als ihre Reflexionsform eine Ideologie hervor, die der Reproduktion einer solchen Gesellschaft zuträglich ist und ihre Gewalt rechtfertigt. Mehr noch: die von dieser Gesellschaftsordnung produzierte Unfreiheit und die Menschenfeindlichkeit einer Ordnung, in der Hunger bekanntlich kein Grund zur Produktion ist, werden gar nicht mehr als solche empfunden. Bürgerliche Ideologie lässt die Leute glauben, was in dieser Gesellschaft vor sich geht sei vernünftig und notwendig. Adorno schreibt: „Im Stillen ist eine Menschheit herangereift, die nach dem Zwang und der Beschränkung hungert, welche der widersinnige Fortbestand der Herrschaft ihr auferlegt.“ Die Menschen verharren gewissermaßen in Unfreiheit, ohne darum zu wissen, machen sich als Freiheit vor, was nur die Anpassung an den Zwang bedeutet. Daran ändert selbst Bildung, früher Quelle der Subjektivierung, nichts bzw. verstärkt die Entwicklung noch – zumindest eine solche Bildung, die sich der Kontrolle der gesellschaftlichen Verhältnisse unterwirft; einer Bildung, die nur noch dem gesellschaftlichen Selbstzweck dient und wovon die Reproduktion des Lebens nur ein Abfallprodukt ist. Hinzu tritt eine Kultur, die industriell organisiert ist, in die die Gesellschaftsmitglieder als Kunden und Konsumenten eingegliedert sind und die alles mit Monotonie schlägt, einen Hort der Dummheit sowie einen Verblendungszusammenhang aufrichtet, der kaum noch zu durchbrechen ist.
Die warenproduzierende Gesellschaft stellt also den gesamten gesellschaftlichen Austausch unter ihre Bestimmungen. Mit der Produktion von Waren im Überfluss durch die fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte, durch Rationalisierung, Maschinisierung und Automatisierung ist aber nicht die Arbeit überflüssig geworden, an der man sklavisch festhalten muss, weil sie immanent Bedingung der Reproduktion ist, sondern die Arbeiter, die systematisch aus dem Arbeitsprozess verdrängt werden müssen, um Kosten einzusparen und Gewinne zu maximieren. Dies ist nichts anderes als der blinde Zweck dieser kapitalistischen Ordnung: die technisch unnötig gewordene Aufrechterhaltung des Ausbeutungszusammenhangs als Quelle von Leiden enormen Ausmaßes. Es gilt die Tretmühle am Laufen zu halten, Produktion um der Produktion willen, statt als Mittel zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung. Der Zweck der gesellschaftlichen Produktion besteht eben nicht in der Einrichtung eines guten Lebens für alle Menschen, was immer man auch darunter verstehen mag. Ersichtlich ist das schon daran, dass täglich zehntausende Menschen verhungern, obwohl es längst möglich ist, alle Menschen weltweit mit dem Grundlegendsten zu versorgen; erkenntlich also daran, dass in der ersten Welt überflüssige Nahrungsmittel in der Regel lieber vernichtet werden, um deren Marktpreise stabil zu halten, anstatt sie Bedürftigen zu geben. Dass das Leben in diesem Teil der Welt noch erträglich ist, je nach Standpunkt des Betrachters, ist mehr ein Neben- oder man könnte auch sagen Abfallprodukt des eigentlichen Zwecks: der rastlosen Vermehrung von Tauschwerten. Das ist der Sinn jeder Kapitalbewegung, die so sehr sich das die Sozialdemokraten aller Couleur auch einreden wollen, niemals domestiziert und in den Dienst des Menschen gestellt wurde oder werden kann. Der Zweck der Produktion von Waren in dieser Gesellschaft war nie ein anderer, als aus Wert mehr Wert zu machen, aus Geld, dem allgemeinem Wertäquivalent, mehr Geld zu machen. Und diese Triebfeder der kapitalistischen Vergesellschaftung beherrscht nicht nur den Markt und die gesellschaftliche Interaktion; sie beherrscht das Subjekt, den Einzelnen unbewusst bis ins Innerste, sodass wir von einer politökonomischen Struktur bürgerlicher Subjektivität reden müssen.
Dass der Einzelne aber für die Funktion der Gesellschaft tendenziell überflüssig wird, weil seine Arbeitskraft, durch die er sich ins Ganze integriert in zunehmenden Maße nicht mehr gebraucht wird, kann für dessen subjektive Konstitution nicht folgenlos bleiben, sondern macht sich als Krise des Subjekts immer dann bemerkbar, wenn die Wachstumsdynamik, an der die Integration der Einzelnen in die Warengesellschaft gebunden ist, ins Stocken gerät. Krisen des Systems übersetzen sich in Krisen des Subjekts und die Verarbeitung solcher Krisen kann katastrophale Formen annehmen. In Deutschland mündete sie in die negative Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, im deutschen Vernichtungskrieg und der Shoah, der fast vollständigen Ausrottung des europäischen Judentums. In der europäischen Peripherie vollziehen heute islamistische Terrorbanden eine ganz ähnliche negative Aufhebung der bestehenden Gesellschaften mit mörderischen Konsequenzen aber bisher geringerer Durchschlagskraft als die deutsche Barbarei. Diese negative Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft ist ein zentraler Reflexionspunkt Kritischer Theorie. Nach Auschwitz ist die Kritik der Verhältnisse eine andere geworden, an der Shoah hat sich eine Dialektik der Aufklärung gezeigt, die den bürgerlichen Fortschrittsglauben blamiert hat bzw. ihn durch einen Fortschritt in der Entmenschlichung ersetzt hat. Die Überwindung der Voraussetzungen für jene falsche Aufhebung, also die Überwindung der gesellschaftlichen Ursachen für Faschismus macht die Kritische Theorie – und das ist eben zentral für eine antifaschistische Gesellschaftskritik – zum Maß jeder Praxis und das Fortbestehen jener Bedingungen, die in der kapitalistischen Vergesellschaftung liegen, zum Existentialurteil über die bestehende Gesellschaft nach Auschwitz. Wolfgang Pohrt brachte es einmal auf den Satz: „Die Welt, die nach Auschwitz nicht ganz anders ist, ist eine, die Auschwitz bewußt in Kauf nimmt.“ Den Faschismus analysiert die Kritische Theorie nicht als Ausrutscher, nicht als Zivilisationsbruch, sondern als das „Zusichselbstkommen der Gesellschaft an sich“ (Adorno). Die These der Kritischen Theorie ist nun also die, dass sich nach Auschwitz die alte Gesellschaft wiederhergestellt hat, aus der heraus Auschwitz erst ermöglicht wurde. Und gerade weil eine Gesellschaft, die Auschwitz in Kauf nimmt, sich für Auschwitz verantworten muss, wurde das Dasein in der bestehenden Gesellschaft, so Adorno, zu einem „universalen Schuldzusammenhang“.
In einer solchen gesellschaftlichen Totalität, aus der es subjektiv kein Entrinnen gibt, nicht in Kommunen, nicht in irgendwelchen Subkulturen und auch nicht in anderen, vermeintlich sozialistischen Ländern, gewinnt das gesellschaftlich produzierte bürgerliche Subjekt Identität nicht an sich selbst, sondern u.a. in der Abgrenzung zu anderen. Jenes Subjekt findet Identität, um es mit Joachim Bruhn auf den Punkt zu bringen, „im Prozeß einer ständigen Abgrenzung und eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben.“ Mit anderen Worten: in der rassistischen und/oder antisemitischen Abgrenzung oder – im Falle des Islamismus – der Einteilung der Welt in „Gläubige“ und „Ungläubige“.1 Keine Bestandteile sind so zentral für Naziideologie wie Rassismus und Antisemitismus und beide haben ihren Ursprung in der Grundform jener Ideologie, der bürgerlichen Ideologie; der Ideologie, die für diese Gesellschaft konstituierend ist, mit der jede und jeder von Geburt an konfrontiert ist und die sich ins Subjekt einschreibt, ob man denn nun will oder nicht. Diese Ideologie des Rassismus wie des Antisemitismus missversteht der bürgerliche Antifaschismus oder der Staatsantifaschismus, der mittlerweile zum Bestandteil der staatlich verordneten politischen Kultur in diesem Land geworden ist, als Vorurteil, als Erkrankung des Bewusstsein, dem durch Information über die Schlechtigkeit dieses Denkens beizukommen wäre. In diesem Punkt und freilich nicht nur in diesem, unterscheidet sich unsere Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse ganz fundamental von dem Praxisverständnis der politischen Linken, die hier als sozialdemokratische, reformistische Linke bezeichnet wird und von der eine radikal-gesellschaftskritische Linke zu unterscheiden ist.
Was bedeutet es also, wenn wir Rassismus und Antisemitismus als gesellschaftliche Verhältnisse, als notwendige Erscheinungen dieser kapitalistischen Gesellschaft begreifen, denen nur durch die Abschaffung der bestehenden Ordnung, aber ganz sicher nicht mit den herrschenden Formen der Demokratie, mit Menschenrechten oder Sozialarbeit beizukommen ist? Was wir damit nicht meinen, wenn wir von Rassismus und Antisemitismus als gesellschaftlichen Verhältnissen reden, ist die in der Zivilgesellschaft inzwischen weit verbreitete Ansicht, dass Rassismus und Antisemitismus vielleicht gesellschaftliche Verhältnisse seien, weil sie weit verbreitet sind, ja weil diese Ideologien, was sich etwa in der deutschen Flüchtlingspolitik widerspiegelt, in bestimmten Bereichen Common Sense sind. Die Erklärung, warum wir Rassismus und Antisemitismus als gesellschaftliche Verhältnisse begreifen, geht einen Schritt hinter die Tatsache ihre gesellschaftsweiten Verbreitung zurück; sie geht auf den Grund, erklärt im besten Fall, die gesellschaftlichen-notwendigen Entstehungsbedingungen von Rassismus und Antisemitismus. Freilich wird es im Einzelfall den Unterschied ausmachen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß sich diese notwendige Ideologie gesellschaftlich Geltung verschafft. Im nachfolgenden zweiten Teil unserer Reihe in der kommenden Ausgabe der Alerta Südthüringen schauen wir uns die Sache also im Einzelnen an und untersuchen die Bedeutung von Rassismus und Antisemitismus aus einer radikal-gesellschaftskritischen Perspektive.
Zur antifaschistischen Kritik des Islamismus vgl. den Debattenbeitrag der Antifa Suhl/Zella-Mehlis vom 21. August 2015, dokumentiert in Alerta Südthüringen #6, S. 24ff.