Zur Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse
Mit einer Kritik an der NPD und deren Entlarvung als ein Kind des nationalsozialistischen Geistes, sowie durch eine Kritik neonazistischer Ideen und Praxis kann einem Anspruch auf eine radikale Kritik der Gesellschaft nicht zu Genüge nachgekommen werden. Vielmehr ist es notwendig, die hochgelobte, und scheinbar allen bisher da gewesenen Gesellschaften überlegene bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu hinterfragen. Denn in ihr reproduzieren sich die Ressentiments, die die Neonazis schließlich aufgreifen und mehr oder minder geschickt verpackt für ihre Zwecke zu thematisieren versuchen. Neonazistisches Gedankengut ist somit keinesfalls eine periphere [1] Erscheinung der scheinbar aufgeklärten Gesellschaft, sondern entsteht in ihrer Mitte und kann folglich nur auf deren Grundlage existieren.
Im Folgenden wollen wir im Text auf einen bedeutenden Teilaspekt von Gesellschaftskritik eingehen, die Kritik der politischen Ökonomie.
Die kapitalistische Produktionsweise
Die im Kapitalismus lebenden Individuen sehen sich jeden Tag aufs Neue vor die Unzumutbarkeiten eines von immanenter [2] Widersprüchlichkeit geprägten, Armut produzierenden Wirtschaftssystems gestellt. Es ist an Absurdität kaum mehr zu übertreffen, dass im Kapitalismus die Bedürfnisse der Menschen hinter jene des Marktes gerückt werden. Nur so ist es möglich, dass trotz des technischen Fortschritts noch nie mehr Menschen zu einem Leben in Armut gezwungen wurden als heute. Überschüsse an produziertem Getreide werden nicht etwa an Bedürftige abgegeben, sondern konsequent, der mörderischen Logik des Kapitalismus folgend, vernichtet. Bereits jetzt könnten rein theoretisch 12 Milliarden Menschen ernährt werden, was in etwa der doppelten Anzahl der Weltbevölkerung entspricht. Die Ursache für die Nichtauslieferung von Nahrung an Bedürftige liegt jedoch nicht in der ,,raffenden Habgier" einiger Manager begründet, sondern im immanent-widersprüchlichen kapitalistischen System selbst.
Im Kapitalismus kommt den produzierten Gegenständen, neben ihrer Eigenschaft als Gebrauchsgut, eine weitere Funktion zu. Sie werden zur Ware, d.h. sie besitzen die Eigenschaft, gegeneinander austauschbar zu sein. Um einen Austausch verschiedener Gegenstände (z.B. ein Brot und vier Eier) zu realisieren, ist es notwendig, diese Gegenstände auf ein gemeinsames Drittes zu reduzieren. Dieses gemeinsame Dritte hat jedoch nichts mehr mit den konkreten, sinnlich erfahrbaren Eigenschaften der Gegenstände zu tun, schließlich wäre es absurd zu behaupten, Brot und Eier seien gleich. Vergleichbar werden diese Dinge nur durch ihre Eigenschaft als ein Produkt abstrakt menschlicher Arbeit. So ist also das gemeinsame Dritte, auf welches alle Dinge reduziert werden, nichts anderes als die allgemeingesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung verausgabt werden muss.
In einer kapitalistischen Gesellschaft ist es kaum mehr möglich, die eigens produzierten Waren, etwa in einem Supermarkt, gegen andere einzutauschen. So wird sich wohl kein_e Supermarktkassierer_in bereit erklären, die Bio-Eier aus dem eigenen Hühnerstall an der Kasse gegen eine Cola einzutauschen. Auf Grund dessen ist im Kapitalismus ein Tauschmittel etabliert: das Geld. Dieses ist nicht etwa nur der Erleichterung kapitalistischer Austauschprozesse dienlich. Vielmehr mutiert die Akkumulation [3] des Geldes in kapitalistischen Gesellschaften fortwährend zum ,,irrationalen Selbstzweck". (Marx)
Dem Kapitalismus ist es eigen, Güter nicht primär zur Bedürfnisbefriedigung der Menschen zu produzieren. So werden hergestellte Güter zu Waren, d.h. sie werden auf einem anonymen Markt zum Tausch angeboten. An dieser Stelle treten Produktion und Verteilung von Gütern auseinander. Eine Produktion, die ausschließlich auf einen bestmöglichen Vertrieb der Güter getrimmt ist, kann nicht zugleich die Bedürfnisbefriedigung verschiedener Individuen zum Ziel haben. Somit ist es auch völlig unklar, zu welchem Zweck verkaufte Waren genutzt werden. Ob ein Brot etwa verzehrt wird, oder, wie es in kapitalistischen Systemen gängige Praxis ist, es zur Stabilisierung des Marktpreises vernichtet wird, liegt nicht mehr im Ermessen des Produzierenden. Menschen haben in diesem System nur eine Bedeutung: die Bedeutung des anonymen Warenbesitzers.
Eine Produktion für einen anonymen Markt bewirkt immer, dass die einzelnen Kapitalist_innen fortwährend, unter dem Druck des Systems, zur irrationalen Akkumulation des Geldes gezwungen werden. So müssen sie stets bemüht sein, ihre eigens hergestellten Güter möglichst kostengünstig zu produzieren, um auf dem Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Im Zirkulationszyklus vermehrtes Kapital wandert nicht etwa in die Tasche hakennasiger sowie raffgieriger Manager [4], sondern wird in eine erneute Warenproduktion - diese beinhaltet auch die Neuanschaffung bzw. Instandhaltung von Maschinen sowie die Entlohnung der Arbeitskräfte - investiert, um die Produktionskosten um ein weiteres Stück in den Boden zu treiben. Überschüssiges Kapital wird zumeist gewinnbringend angelegt, sei es in Form von Staatsanleihen, Investitionen in andere Betriebe in Form von Aktienerwerb oder auch bei einer der zahlreichen Banken.
An dieser Stelle zeigt sich auch ein zentraler Widerspruch im kapitalistischen System: diejenigen Kapitalist_innen, die im größten Maße zur Vernichtung von mehrwertproduzierender Arbeit durch Maßnahmen zur Kostensenkung beitragen, sind zugleich jene, die das Gros des Kapitals und die größten Gütermassen anhäufen. So wachsen die Produktmassen immer weiter an, wobei im gleichen Maße die Kaufkraft der ,,arbeitenden Armen" sinkt.
Auf Grund der Produktion für einen anonymen Markt, anstatt für die Bedürfnisse der Menschen, werden arbeitserleichternde Maßnahmen und Innovationen, wie bspw. die Anschaffung von Maschinen, nicht etwa dazu genutzt, der Menschheit das Leben durch zunehmenden Wegfall von Arbeit zu erleichtern. Vielmehr führt es zu deren Ausbeutung durch Mehrarbeit auf Grund des Zwangs zu kostensenkenden Maßnahmen. Dies soll nun jedoch nicht so verstanden werden, dass der Kapitalismus im Grunde gar nicht so schlecht wäre, würden nur diese Widersprüche aus dem Wege geräumt. Diese Widersprüche sind dem Kapitalismus inhärent, d.h. sie können nur durch dessen radikale Abschaffung aufgelöst werden.
Der einzige Ausweg ist die Abschaffung des Systems
Die Entstehungsgeschichte der heutigen neoliberalen Gesellschaft ist nur schwerlich in den rosaroten Farben eines freiheitlichen Systems zu malen. Mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise, allen voran in England, bildete sich auch Widerstand gegen diese heraus. Zu Zeiten der ersten industriellen Revolution war der Traum von der Arbeit und den ,,Naturgesetzen des Marktes" noch nicht derart in den Köpfen der Menschen manifestiert wie es heute der Fall ist.
Im Laufe der Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise war es notwendig, Gewalt anzuwenden, etwa um die Menschen an die Maschinen in den Fabriken zu treiben. Jedoch kam es auf Grund der nicht vorhandenen Verankerung des höchsten Gutes - der Arbeit - im Denken der Individuen zu Widerstand gegen die aufkommenden Bedingungen. Dies zeigt beispielsweise der Aufstand der Schlesischen Weber oder die Maschinenstürmer, die keinesfalls wahllos, gleich einem Haufen Irrer, auf alle Maschinen eindroschen, die sich gerade in ihrer Reichweite befanden. Vielmehr gingen die unter dem wohl fiktiven ,,General Ludd" agierenden Maschinenstürmer koordiniert gegen ausgewählte Fabriken vor.
Heute erscheint uns der Kapitalismus als alternativlos. Wir akzeptieren ihn, stellen uns unbewusst unter das panoptische [5] Prinzip der Selbstkontrolle, ohne unser irrationales Verhalten oftmals auch nur ansatzweise zu reflektieren. Der Kapitalismus hat sich in die Köpfe der Menschen als naturgegeben eingebrannt. Gezwungen durch eine apersonelle, strukturelle Gewalt, Arbeitsteilung auf einem hohen Niveau sowie durch den irrationalen Selbstzweck der Kapitalakkumulation haben wir alle teil am kapitalistischen Alltag, der uns lehrt, dass wir unser Essen erst durch harte Arbeit verdienen müssen. An dieser Stelle zeigt sich erneut, weshalb nicht etwa gierige Finanzhaie schuld an in weiten Teilen der Bevölkerung herrschender Armut sind. Schuld ist das irre System an sich. Eine radikale Kritik der Gesellschaft muss erkennen, dass der kapitalistische ,,Verein" nicht aus wenigen, besonders engagierten und erfolgreichen Mitgliedern besteht, sondern, dass wir alle Mitglieder dieses Vereins sind, ob wir nun wollen oder nicht.
Somit führt der Ausweg aus den prekären Lebensverhältnissen der Selbstausbeutung, hin zu einem selbstbestimmten Leben, auch nicht über eine grundlegende Reform des Kapitalismus oder gar über ein autarkes, rückschrittliches Einsiedlerleben unter Tieren und Pflanzen im Wald. Ein Ausweg existiert nur über die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise. Voraussetzung hierfür ist ein radikaler Bruch mit dem Arbeitsfetisch. Die Abschaffung der Produktion für einen anonymen Markt sollte jedoch keinesfalls mit einem Rückfall in spätmittelalterliche Praktiken einhergehen, sondern am heutigen Stand modernster Technik ansetzen und diese auch weiterentwickeln. Gleichwohl ist hierfür die Erkenntnis nötig, dass der Kapitalismus keinesfalls eine naturgegebene und alternativlose Gesellschaftsform darstellt, sondern als ein historisches Produkt menschlicher Interaktion zu begreifen ist.
Exkurs: Der Widerspruch von Umweltschutz und kapitalistischer Produktionsweise
Dem Prozess der Geldvermehrung zur reinen Sicherung der eigenen Existenz wird in kapitalistischen Gesellschaften einfach alles geopfert. Ohne Rücksicht auf Mensch und Natur werden natürliche Ressourcen der Erde ausgebeutet und Tiere für den Verzehr der Menschen industriell getötet und verarbeitet. Jahrtausende alte Wälder werden gerodet, um noch günstigere Weideflächen für noch mehr Nutztiere zu erzeugen, usw. usf.
So zeigt sich auch der unvereinbare Widerspruch des propagierten ,,Schutzes der Umwelt" durch die ,,Klimakanzlerin" Angela Merkel einerseits und kapitalistischer Produktionsweise andererseits. Aus Sicht des Kapitals ist es nur konsequent die Natur, unter Zuhilfenahme von monströsen Räumfahrzeugen, plattzuwalzen und bis auf den letzten Grashalm für sich in Beschlag zu nehmen. Schließlich ist das Ziel, produzierte Güter möglichst preiswert anbieten zu können, um konkurrenzfähig zu bleiben und Profit zu erwirtschaften. Dabei macht es wenig Sinn, das mühsam erwirtschaftete Kapital nicht in neue Maschinen zu investieren, sondern in den Umweltschutz. Dies würde nur einen Nachteil der betroffnen Fraktion des Kapitals auf dem Markt bedeuten, da eben das in den Umweltschutz investierte Kapital nicht zur Produktionsoptimierung verwendet werden kann.
Vor diesem Hintergrund erscheint es beinahe irrsinnig, wenn nun unter dem Deckmantel des Wettbewerbes neue Strategien zum Schutz der Umwelt entwickelt werden sollen. Selbstverständlich auch nach den Regeln des vom Kapitalismus diktierten Kalküls. Lediglich dann, wenn Umweltschutzmaßnahmen mit den Interessen des Kapitals vereinbar sind, wie bei alternativer Energieerzeugung durch Wind-, Wasser-, oder Solarenergie, haben diese eine Chance auf Realisierung.
Die Alternative
Es stellt sich unweigerlich die Frage: ,,Was kommt nach dem Kapitalismus?" Eine radikale Gesellschafts- und somit auch Kapitalismuskritik darf eine Antwort darauf nicht schuldig bleiben. Auch wenn es naiv wäre, zu glauben, ein fertig gedachte Alternative läge bereits bereit.
Jedoch ist es möglich, durch eine Negation [6] bestehender Verhältnisse, ansatzweise Konturen von dem zu skizzieren, was nach dem Kapitalismus sein soll. Beispielsweise ergibt sich aus einer Negation des Ausbeutungsverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital und der Produktion für einen anonymen Markt eine Vorstellung von der gewünschten Produktionsweise: die Menschen sollen nicht für einen anonymen Markt, sondern für ihre Bedürfnisse produzieren. Dies soll nicht im Rahmen eines kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses geschehen, sondern auf einer zwanglosen Ebene, in der keine Mehrwertproduktion angestrebt wird. Aus einer Negation des Arbeitsfetischs ergibt sich folgerichtig, dass eine Güterproduktion etabliert werden soll, die auf Bedürfnisbefriedigung abzielt und nicht auf Gewinnmaximierung durch Mehrarbeit. Somit werden die falschen Verhältnisse vom Kopf zurück auf die Füße gestellt.
Einzig weil sich eine radikale Gesellschaftskritik nicht im Stande sieht, ein zu Ende gedachtes, schillerndes System zu präsentieren, wird sie weder automatisch falsch noch überflüssig. Denn um einen wirklichen Ausweg aus der Gesamtscheiße zu finden, die konsequenterweise auch Auswüchse wie Neonazis im Allgemeinen oder die NPD im Speziellen hervorbringt, ist eine Kritik des Bestehenden notwendig, um überhaupt ein Bewusstsein für die Unzumutbarkeit des Kapitalismus im bürgerlichen Denken zu schaffen.
Die aus der gesellschaftlichen Mitte entwachsenen Neonazis verstehen das sie umgebende System in seiner Komplexität nicht. Auf Grund dessen, ist für sie der erste Lösungsansatz die romantisierende Wärme einer Volksgemeinschaft, in der für Nichtdeutsche und Unkonforme kein Platz vorgesehen ist. Das auf diese menschenverachtende Weise die Probleme des immanent widersprüchlichen Kapitalismus nicht gelöst werden können, will ihnen nicht einleuchten. Neonazis stehen einer Auflösungsbewegung des Kapitalismus fundamental gegenüber. Hieran lässt sich die Notwendigkeit für radikale Gesellschaftskritik ableiten, eine konsequente antifaschistische Praxis zu entwickeln.
Fußoten:
[1] peripher bedeutet am Rand gelegen oder auch nebensächlich oder marginal
[2] immanent bedeutet soviel wie innewohnend
[3] Akkumulation bedeutet die Vermehrung von Geld/Kapital
[4] Eigenschaften, die von Antisemit_innen den Juden zugeschrieben werden
[5] panoptisch bedeutet rundherum einsehbar / überwachbar
[6] Negation bedeutet Verneinung
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