Zur Kritik der Demokratie ...
... und zur Notwendigkeit der Emanzipation von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft

Alle vier oder fünf Jahre werden wir, vorausgesetzt ,,wir" sind deutsch und volljährig, an die Wahlurnen gebeten, um den Bürgermeister, Landrat oder Abgeordnete in irgendein Parlament zu wählen. Es ist die Spielart der parlamentarischen Demokratie, dass alle paar Jahre, diejenigen gewählt werden dürfen, die stellvertretend für uns wichtige Entscheidungen treffen. Das ganze nennt sich dann Volksherrschaft bzw. Demokratie. Dabei sind die Möglichkeiten, die die ,,Volksvertreter" unter dem Diktat des Kapitalismus treffen können, äußerst beschränkt. Egal welche bürgerliche Partei auch regiert, am Gesamtdrama, dem Kapitalismus, wird sich nichts ändern. Die Wahlen geben den Menschen das Gefühl über ihre Geschicke selbst zu bestimmen. Dabei bestimmen die Menschen zwar über ihre Verhältnisse, ,,aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." (Karl Marx) [1]

Was ändern Wahlen?

Habt ihr euch auch schon einmal gefragt, warum ihr an Wahlsonntagen überhaupt den Weg zum Wahllokal antretet? Habt ihr auch schon das Gefühl gehabt eure Stimme ändert eh nichts und ob nun SPD oder CDU den Ton angeben, das Ergebnis nähme sich sowieso nichts? Wenige Stunden später müsst ihr trotzdem wieder schuften gehen und um eure soziale und ökonomische Situation wäre es nicht besser bestellt? Damit seid ihr nicht allein. Uns geht es genauso und wir meinen dieses Gefühl ist völlig berechtigt.
Eine tiefgreifende Veränderung ist in der Demokratie gar nicht angelegt. Es sind die ökonomischen Zwänge, die Menschen in das System der Lohnarbeit zwingen. In diesem System verbringt ein arbeitender Mensch den wesentlichen Teil seines Tages mit der Lebensbewältigung, also Lohnarbeit und eigener Reproduktion (Essen, Hygiene, Schlaf, soziale Interaktionen). Er ist gezwungen seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, will er ein gutes Auskommen erreichen. Für die politische Betätigung und Bildung fehlt oft die Zeit und die Kraft und so verkümmert das politische Engagement vieler Menschen auf ein Kreuzchen alle paar Jahre. Das jetzige ökonomische System erscheint den Menschen als natürlich. Zum einen weil es seit sie denken können so ist und auch weil es im kollektiven Gedächtnis nie anders war. Zum anderen, weil sich die Menschen kein System fern der Marktwirtschaft vorstellen können.
Dabei ist dieser heutige Zustand nur das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses. Er ist keine vorgesellschaftliche Voraussetzung für die Gesellschaft, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung. [2] Und nicht nur das. Dieses System der Marktwirtschaft ist zugleich der Garant einer künstlich geschaffenen Armut. So ist es nur in der Marktwirtschaft denkbar, dass täglich tausende Menschen auf der Welt verhungern und dass Menschen in einem reichen Land, wie Deutschland, in Armut leben. Dabei ist es längst möglich alle Menschen weltweit zu ernähren und darüber hinaus weitere menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Doch für jene Menschen ist im globalen Kapitalismus kein anderer Platz vorgesehen.

Trennung zwischen Politik und Ökonomie

Dieser Missstand jedoch steht in der Demokratie gar nicht zur Debatte. Die Marktwirtschaft wird nicht in Frage gestellt. Die Trennung zwischen Ökonomie und Politik ist der Demokratie eigen. Die Ökonomie folgt demnach ihren eigenen, als natürlich wahrgenommenen Gesetzen. Diesen Gesetzen hat sich die Politik zumeist unterzuordnen. Einen scheinbaren Unterschied merken wir in der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise. Ist die Marktwirtschaft einmal dabei vor den Baum zu fahren, ist die Politik bzw. der Staat gefragt und die Trennung zwischen Ökonomie und Politik scheinbar aufgehoben. Allerdings nicht im positiven Sinne, sondern zum Zwecke der Wiederherstellung der alten Ordnung. Daran ändern auch keine regulierten Managergehälter und Pseudoverstaatlichungen etwas.
Die grundlegenden ökonomischen Verhältnisse sind durch politische Maßnahmen der bürgerlichen Demokratie nicht zu verändern. Rosa Luxemburg, eine bedeutende Vertreterin der europäischen Arbeiter_innenbewegung, hat das einmal treffend so formuliert: ,,Alle Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich durch gesetzliche Reformen auf bürgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten, weil sie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt, noch die Gestalt von solchen Gesetzen erhalten haben." [3] Die kapitalistische Produktionsweise, die den Menschen als so natürlich erscheint, ist nicht durch ein bürgerliches Gesetz hergestellt. Sie ist aus einem geschichtlichen Prozess heraus entstanden und wird durch die bürgerliche Demokratie nicht hinterfragt. Und um es an dieser Stelle ausdrücklich zu sagen: Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist Menschenwerk und als solches auch positiv aufhebbar.
Die Demokratie muss innerhalb der von der kapitalistischen Ökonomie gesetzten Grenzen verbleiben. Werden diese Grenzen überschritten, haben die Verbände des Kapitals enorme Druckmittel, wie beispielsweise die Begrenzungen von Investitionen, Abzug von Kapital oder Einschränkung von Produktion. Das wiederum schadet der Volkswirtschaft des jeweiligen Landes und wirkt auf die Lebensqualität zurück. Der Staat ist auf eine blühende Wirtschaft angewiesen und kann es sich nicht leisten durch das Kapital sanktioniert zu werden. So können ohne Weiteres sozialistische Experimente, wie das der 1980er Jahre in Frankreich zunichte gemacht werden, eben durch oben beschriebene Druckmittel. In Frankreich entschied man sich zu dieser Zeit das Wirtschaftsmodell auf ein binnenmarktorientierteres umzustellen, d.h. sich mehr und mehr vom globalen Markt zu lösen und durch Staatsinterventionen (höhere Mindestlöhne, Verstaatlichungen, mehr Staatsinvestitionen, stärkere Regulierungen) die Binnennachfrage zu steigern und so den Bürger_innen des Landes eine höhere Lebensqualität zu garantieren. Das Experiment scheiterte, da die Mechanismen des freien Marktes die französische Wirtschaft ,,abstraften" mit Kapitalflucht und Rückgang von Investitionen. Das Resultat war ein drastischer Einbruch der französischen Wirtschaft und eine enorme Verschuldung des Staates.
Deutschland fährt die entgegengesetzte Politik. Hier werden Arbeitnehmer_innenrechte und Einkommen so stark beschnitten, dass sich multinationale Unternehmen bevorzugt in Deutschland ansiedeln, da man hier günstiger produzieren kann. Der Exportweltmeister Deutschland versucht durch eine klar exportorientierte Wirtschaftspolitik sprichwörtlich Kapital zu schlagen. Die Verlierer sind dabei mittelfristig die Arbeitnehmer_innen und Arbeitslosen. Auf Dauer, so wird betont, wirkt der so entstandene Reichtum auf alle zurück. Am sozialistischen Experiment in Frankreich wird ersichtlich, dass sich die kapitalistische Ökonomie nicht einfach außer Kraft setzen lässt durch ein Mehr an Staat. Diese als Keynesianismus nach ihrem Begründer John Maynard Keynes benannte Politik ist nicht mehr als ein Versuch, die Zumutungen des Kapitalismus zu reduzieren.

Der machtlose Souverän

In der Demokratie soll die wählende Bevölkerung der Souverän, also Inhaber der Staatsgewalt, sein. Dieser Souverän soll die Gesellschaftsgestaltung vornehmen. Im Falle der parlamentarischen Demokratie wählen die Menschen Vertreter_innen, die das in ihrem Namen tun. In der bürgerlichen Gesellschaft und Demokratie jedoch übernehmen die Politiker_innen die Verantwortung für von ihnen gar nicht Gestaltbares. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich die Politiker_innen bewegen, haben so enge Bahnen, dass von einer freien Gestaltbarkeit der Gesellschaft keine Rede sein kann. Demokratische Politiker_innen machen aus dieser Not eine Tugend, denn wenn sie die Verhältnisse schon nicht verändern bzw. machen können, so können sie sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten wenigstens steuern. Und nichts anderes ist es, wenn die Krisenpolitik der kapitalistischen Länder bei der derzeitigen Krise des Kapitalismus und im Angesicht der immer größeren Armut von immer mehr Menschen nicht daran denkt, die Marktwirtschaft aufzuheben. Die Suche nach einer Wirtschaftsweise, die allen Menschen ein gutes Leben ermöglicht, ist nicht in deren Sinne, sondern lediglich die Herstellung des status quo, selbst, wenn in der Krisenlösung schon die Ursache für die nächste Krise schlummert.

Du hast die Wahl?

Zu den Wahlen erhalten die Menschen die Gelegenheit sich ohne großen Aufwand gesellschaftlich zu betätigen und scheinbar auch die Möglichkeit über ihre Geschicke selbstbestimmt zu entscheiden. Dabei wählen die Menschen nur die Regierenden, die weniger über die Verhältnisse bestimmen können, als über die Wähler_innen, die mit ihnen auch das politische System legitimieren. Die Wahl zeigt zudem einen tiefen Pessimismus gegenüber der Bevölkerung, der man direktere Mitbestimmung verwährt. Um eine direkte Gestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen, ist es jedoch auch notwendig sich beispielsweise von schnödem Unterhaltungsfernsehen, wie "Deutschland sucht den Superstar", "Bauer sucht Frau" oder "Germanys next Top-Model" und dem Suchen nach einfachen Antworten auf komplexe politische Probleme (Stichwort Überfremdung oder Volksgemeinschaft durch faschistische oder konservativ-populistische Kreise) zu empanzipieren und stattdessen die politische Bildung vorzuziehen.
Ziel muss eine aufgeklärtere, politisch aktive Gesellschaft sein, die sich an einer emanzipatorischen Veränderung der bestehenden Zwangsgemeinschaft orientiert.
Festzuhalten bleibt: Das Wählen kann die politische Betätigung nicht ersetzen, möchte man wirklich die weltweiten Probleme, die der Kapitalismus mit sich bringt, wirksam bekämpfen. Vielmehr sind die Wahlen nur Anlässe, zu denen sich die Regierenden die politische Legitimität von der Bevölkerung einholen.

Das kleinere Übel?

Und doch meinen wir, kann wählen unter bestimmten Umständen Sinn machen. Die bevorstehenden Wahlen für die Thüringer Kommunalparlamente und den Landtag sind möglicherweise solche Fälle. Bei beiden Wahlen wird die neofaschistische Thüringer NPD antreten. Warum die NPD eine besonders üble Partei ist, der man die anderen Parteien noch vorziehen müsste, beschreiben wir an einer anderen Stelle der Broschüre. Hier kann auch für demokratie-kritische Menschen das Wählen sinnvoll werden, nämlich dann, wenn so der Einzug der NPD in die Parlamente verhindert werden kann bzw. die Anzahl der Mandate für die faschistischen Partei vermindert werden kann. Staatlich bezahlte NPD-Politiker und Wahlkreisbüros, die zu faschistischen Zentren werden, wären eine Katastrophe für die alternative und migrantische Szene des Landes. Dies impliziert, dass man sich dabei bewusst sein sollte, dass es kein Akt der Emanzipation ist, das Kreuz an der vermeintlich richtigeren Stelle zu machen.
Uns stellt sich noch eine andere Frage. Ist die neue Linkspartei eine wirkliche Alternative zu CDU/CSU/SPD/FDP/usw.? Ob der Partei im deutschen Parteienkartell eine besondere Rolle zukommen kann, weil sie sich mehr sozialer Gerechtigkeit verschrieben hat, hängt stark von ihrer tatsächlichen Ausrichtung ab. Also versteht sich die Linke nur als die neue SPD, die die wahre sozialdemokratische Politik verwirklicht, als ein ,,Korrekturfaktor" wie es Gregor Gysi ausdrückte oder will die Linke den Antikapitalismus und die Emanzipation von der bürgerlichen Gesellschaft in Position bringen? Momentan beobachten wir von einigen Ausnahmen, auch bei uns in der Region, abgesehen, eher die erneuerte SPD. Die Linke hat es verpasst in der Systemkrise des Kapitalismus jenen zu demaskieren und eine Alternative ins Gespräch zu bringen.

Was wollen wir überhaupt?

Ein wichtiges Argument der Gegner_innen einer emanzipatorischen, revolutionären Veränderung ist, dass wir Kommunist_innen und Anarchist_innen in Gegnerschaft zum Staat und seinen Gesetzen stehen. Das stimmt zwar einerseits, weil wir die Gesetze und Normen der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie die Zurichtungsagentur Staat ablehnen, andererseits begrüßen wir viele der Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber früheren Gesellschaften. Die deutsche Verfassung schreibt viele grundlegende Rechte von Menschen fest und hat damit anderen Staaten, wie z.B. dem Iran oder China einiges voraus. Natürlich wissen wir, dass es um die Umsetzung und Erhaltung dieser Rechte in Deutschland schlecht bestellt ist. Trotzdem müssen wir feststellen, dass die formell-gesetzliche Gleichberechtigung oder die Würde des Menschen in Deutschland ein Gewicht haben. Wir stehen nicht in Gegnerschaft zu diesen Freiheitsrechten.
Wir befürworten den weltweiten Kampf für universelle Menschenrechte und möchten eine Gesellschaft, in der diese Rechte eine Selbstverständlichkeit werden. So selbstverständlich, wie das Recht zu atmen, so selbstverständlich, dass es einer schriftlichen Fixierung nicht mehr bedarf. Wir wollen eine weltweite Emanzipation von Herrschaft und Unfreiheit, eine Gesellschaft vollkommener Freiheit und sozioökonomischer Gleichheit. Es ist der Kampf für eine Gesellschaft, in der die individuelle Freiheit eines Einzelnen Voraussetzung für die Freiheit aller ist. Deutschland ist keine solche Gesellschaft. Das deutsche Gesellschaftsmodell steht einer solchen Entwicklung entgegen und deshalb lehnen wir es ab!
Politische Betätigung breiter Teile der Gesellschaft ist die Voraussetzung für eine fortschrittlichere Gesellschaft. Ohne die Politisierung und Sensibilisierung größerer Teile der Gesellschaft für Probleme, die uns alle betreffen, wird eine nachhaltige, positive Aufhebung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft nicht denkbar sein. Wir möchten hierzu mit diesem Diskussionstext einen Beitrag leisten für die Debatte um eine Ökonomie und ein Leben fern der Marktwirtschaft in der Menschen über ihre gemeinsamen Ressourcen und Bedürfnisse wieder in Verbindung stehen. Wir wollen die weltweite Armut und die Unfreiheit aufheben, für eine Gesellschaft, die sich dem Ideal vollkommener Freiheit und Gleichheit bei hoher Lebensqualität annähert.
Wir möchten euch hier und jetzt keine Wahlempfehlung geben oder zum Nicht-Wählen aufrufen, wir appellieren an euch, euch selbst eine Meinung zu machen.

Fußnoten:

[1] Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx-Engels-Werke, Band 8, Dietz Verlag Berlin (1975), S. 115
[2] Die hier angesprochene Entwicklung beschreibt Robert Kurz ausführlicher in seinem Buch ,,Schwarzbuch Kapitalismus - Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft".
[3] Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?

Literaturtipps:

Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus - Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Eichborn-Verlag (2. Auflage), Frankfurt am Main

Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie - Eine Einführung. Schmetterling-Verlag (5. Auflage), Stuttgart

Colin Crouch: Postdemokratie, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main (günstig zu beziehen über die Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/publikationen/H35E0A,0,0,Postdemokratie.html)

Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung - Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main


Illustrationen findet ihr lediglich in der Print- und PDF-Version der Broschüre.

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