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Ein kritisches Lob des Hedonismus

Wenn die Frage nach der möglichen Objektivität des Glücks nicht bis zur Struktur der gesellschaftlichen Organisation der Menschheit vorgetrieben wird, muß ihre Beantwortung an den gesellschaftlichen Widersprüchen selbst zum Scheitern kommen. – Herbert Marcuse


Subkultur bezeichnet, glaubt man dem Duden, eine von einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe getragene Kultur mit eigenen Normen und Werten. Als Gruppe der Gesellschaft weicht die Subkultur graduell von dieser als Gesamtheit ab, ist ebenso aber ein Teil von ihr. Ihre Werte sind nicht unabhängig von denen der Gesellschaft, wenn auch, zumindest geglaubt, teils negativ zu ihr vermittelt. Geht es um linke Subkulturen, sind diese Werte und Normen meistens getragen von einem diffusen Anspruch auf das gute Leben und damit, diesen Anspruch bereits ein Stück weit im Hier und Jetzt zu verwirklichen; oder wenigstens den Zwängen von Schule, Arbeit, ARGE und Uni etwas entgegen zu halten, diesen zu entkommen, sie erträglich zu machen. Insofern wird in der eigenen sozialen Praxis ein Anspruch auf Glücksmomente erhoben, und sei es nur als Feierabendbier mit Freunden, das die Alltagsscheiße kurz vergessen macht, gleichermaßen aber garantiert, dass man am nächsten morgen wieder auf der Matte steht. Auch eine Gesellschaftskritik kann nicht ohne einen Begriff von Glück auskommen, ist dies, die etwas pathetisch daherkommende Herstellung eines Zustandes wahren Glücks, doch ihr eigentliches Ziel.

So sehr Glück also Motivation des eigenen Handelns ist, und darin unterscheidet sich die Punkerin nicht vom Schlagermusik hörenden Friseur, fallen die Antworten darauf, was Glück ist und was das für die eigene Praxis bedeutet, unterschiedlich aus. Wenn Glück aber mehr sein soll, als etwas rein subjektives und zufälliges, sondern den gesellschaftlichen Zustand im Allgemeinen kennzeichnen soll, dann gilt es seinen objektiven Gehalt zu verwirklichen. Unter der Prämisse gesellschaftlicher Veränderung geht dem Glück also die Erkenntnis voraus. In diesem Sinne soll im Folgenden ergründet werden, was man unter Glück versteht, was es sein kann und soll; das heißt nicht zuletzt, zu bestimmen, was es nicht ist, eben aktuell auch gar nicht sein kann und was sich, in seiner ideologischen Gestalt als solches ausgibt und damit die eigentliche Erfahrung von Glück versperrt.


Von der antiken Philosophie zum Raven gegen Deutschland

Die Forderung nach einem glücklichen Leben zu artikulieren geht zurück bis in die antike Philosophie, wo unter dem Begriff des Hedonismus eine Richtung der Moralphilosophie entwickelt wurde, dernach die Ethik im Dienste des Luststrebens stehe, die Welt zum Gegenstand von Genüssen werden soll. Der Hedonismus ist damit zu betrachten als ein Protest gegen die vorherrschende Entgegenstellung von Glück und Vernunft, als ein Protest gegen die Verinnerlichung des Glücks, das einzig im Bereich der Seele zu verorten sei.

„Mit dem Prinzip des Hedonismus ist die Forderung nach der Freiheit des Individuums – in abstrakter und unterentwickelter Gestalt – in den Bereich der materiellen Lebensverhältnisse vorgetrieben. Sofern in dem materialistischen Protest des Hedonismus ein sonst verfemtes Stück menschlicher Befreiung aufbewahrt ist, ist es mit dem Interesse der kritischen Theorie verbunden.“, so Marcuse. Das fortschrittliche Moment des Hedonismus ist also das Einfordern materieller Freiheit und das Beharren auf der Diesseitigkeit des Glücks. Die Welt soll, so wie sie ist, Gegenstand des Genusses werden. Darin nun liegt auch das Problem, denn es nimmt die Welt so hin, wie sie ist. Die Trennung zwischen Vernunft und Glück vermag deswegen auch im Hedonismus nicht aufgehoben werden. Das Glück wird auch hier in den subjektiven Bereich verlagert. „Die konkrete Objektivität des Glücks ist dem Hedonismus ein nicht ausweisbarer Begriff.“ (Marcuse)

Dieses Auseinanderfallen von Vernunft und Glück ist es auch, dass die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet. Im Zuge der Trennung vom Allgemeinen und Besonderen wird in Abstraktion vom Individuum mit seinen Trieben, Interessen, seiner Empirie ein Begriff des Allgemeinen von Subjekt und Vernunft gebildet. Dies stellt eine Überwindung der Vereinzelung durch die Gemeinsamkeiten im Subjektstatus dar, kann aber nur geleistet werden unter Absehung vom Besonderen. Die Mannigfaltigkeit von Bedürfnissen und Interessen der Individuen sind also nicht aufgenommen im Begriff von Subjekt und Vernunft. So erfolgt auch hier eine Verinnerlichung des Glücks. Es gibt keinen Begriff des allgemeinen Glück, sondern nur ein subjektives, zufälliges.

Das Glück wird also im Gegensatz zur Vernunft, zur Allgemeinheit gedacht. Insofern kann es, wie schon beim Hedonismus in der Antike, etwas fortschrittliches bergen, einen Anspruch auf das eigene Glück zu erheben. So hat auch die Linke den Hedonismus längst für sich entdeckt. Das exzessive Freiern und übermäßiger Drogenkonsum, das die moralisch aufgeladenen Entsagungen von Straight-Edge und anderen Verzichtsideologien konterkariert, werden unter dem Stichwort des Hedonismus zur subversiven Praxis verklärt. Ohne Frage steckt darin, wie angeklungen, ein subversives Moment. Es erlaubt der Rausch am Wochenende sich einmal kurzzeitig dem Zugriff der gesellschaftlichen Zwänge, auch in seiner internalisierten Form, zu entziehen. Politik aber ist das nicht. Wohl darum wissend, gibt es stets Versuche, den eigenen Feierkult politischen Inhalt und Sinnstiftung durch äußerliche Zweckbestimmung zu verleihen. Damit aber könnte man dem Genuss nicht ferner sein, der dem Begriff nach sich selbst genügsam, keiner im eigentlichen Sinne mehr ist, wenn er vom Sichselbstzwecksein zum Mittel wird. Politik und Feiern gehen super miteinander – sollten sie auch! Aber ein Genuss, der durch äußerliche Verordnung politisiert werden soll, ist ein Betrug am Genuss und an sich selbst. Das Raven gegen Deutschland ist so nicht mehr als der Versuch der politischen Rechtfertigung des eigenen Handelns – quasi die pop-linke Version des Bratwurstessens gegen Rechts – und kann kein Ersatz für Gesellschaftskritik sein.


Arbeit nervt

Der Vernunft ist in der bürgerlichen Gesellschaft die Moral als allgemeines Prinzip an die Seite gestellt. Insofern ist es gesellschaftlich geboten vernünftig im Sinne von moralisch zu handeln; wie man damit sein eigenes Glück unter einen Hut bringen kann, aber ist sekundär, bleibt jedem selbst überlassen und mag dem einen besser als dem anderen gelingen, wird also immer ein Moment von Zufall zugeschrieben.

Das Glück (und das meint nicht nur das eigene) zur Maxime des Handelns zu machen, wird dadurch zum amoralischen Protest, wo es nicht mit Moralvorstellungen korrespondiert. Dieses kann aber, so Marcuse, nur fortschrittlich sein, wenn es über das Bestehende hinausweist. Mehr noch aber als durch Moral ist die Erfüllung von Glück verstellt durch objektive wie subjektive Genussunfähigkeit. So entscheidet eben der ökonomische Status darüber, ob man es sich leisten kann, diese Genussmittel oder jenes Produkt der Kulturindustrie zu konsumieren. Aber auch ökonomisch besser gestellte stoßen hier an die Grenze ihrer subjektiven Genussfähigkeit, nämlich die Beeinflussung der eigenen Bedürfnisse und gedachten Möglichkeiten der Befriedigung durch Erziehung und Disziplinierung.

Am erfahrbarsten ist die Einschränkung des Genusses wohl durch den Arbeitsalltag und alles Vergleichbare. Der Genuss muss auf die Freizeit verschoben werden. Bedürfnisbefriedigung ist zwar idealerweise durch Lohnarbeit gesichert, aber ebenso durch sie beschränkt. Der komplementäre Zusammenhang von Arbeit und Freizeit ist schon dadurch gegeben, dass die Freizeit als Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft auch die Aufgabe der Erhaltung der eigenen Funktionsfähigkeit erfüllt. Und auch die Art der Freizeitgestaltung verweist auf diesen komplementären Zusammenhang. Wer kennt es nicht: Nach einem langen Tag endlich zu Hause. Jetzt noch weg gehen? – Keine Lust, zu erschöpft, müde etc. Dafür will man es am Wochenende aber richtig krachen lassen. Gefeiert wird dann möglichst lang und intensiv, eben einfach richtig. Hier hat das exzessive Feiern die Logik von Selbstzurichtung in sich aufgenommen. Die regenerative Freizeit und zwanghafte Aktivität sind damit Fortsetzungen des Funktionieren-Müssens.


Falsche Bedürfnisse

Dass Bedürfnisbefriedigung nun das eigene Funktionieren sichert, kann kein Argument gegen sie sein. Dass es falsche Bedürfnisse sind, die unser Handeln leiten, auch nicht. Dies aber gibt den Blick frei darauf, dass die Bedürfnisbefriedigung, die wir erfahren, nicht in unserem wahren Interesse, nämlich dem eines glücklichen Lebens mit all seinen Möglichkeiten und ohne Einschränkungen eines: „Das muss man sich erst verdienen.“ ist.

Bedürfnisse als falsch zu erkennen, hieße diese als gesellschaftlich vermittelt zu begreifen. Das heißt, Bedürfnisse sind nicht genuin natürlich, nicht einfach zu verstehen als Artikulationsform dessen, was wir wollen, sondern bilden sich in Abhängigkeit der einen umgebenden sozialen Umwelt, der Gesellschaft und sind als solche immer sozial und gesellschaftlich präformiert. Selbst so elementare Bedürfnisse wie Essen und Trinken weisen eine Historizität auf, bilden sich also in Abhängigkeit zur jeweiligen Kultur, nämlich in ihren erwählten Möglichkeiten der Befriedigung.

Doch auch etwas Naturhaftes liegt den Bedürfnissen zugrunde, was wir in Anlehnung an Freud Triebe nennen können. Diese Triebe bezeichnen libidinöse Energien, die den Menschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Verortung eigen sind. Die Triebbefriedigung ist allerdings einem Realitätsprinzip unterworfen und als solches ebenfalls gesellschaftlich vermittelt. Die Triebbefriedigung ist durch das Ich als psychische Instanz einer Prüfung der Möglichkeiten der Befriedigung mit der Außenwelt sowie den im Über-Ich internalisierten Werten unterworfen. Dabei erfahren die Triebe eine Sublimierung. Das heißt, die ursprüngliche libidinöse Energie wird durch die Ersetzung des Ziels oder Objekts der Befriedigung, das durch die Realitätsprüfung als unerreichbar eingeschätzt wird, auf ein anderes verschoben. Der Prozess der Sublimierung ist dabei ein unbewusst von statten gehender. In ihm zeigt sich, wie Triebbefriedigung in Abhängigkeit zur Außenwelt als Bedürfnis einem Transformationsprozess unterliegt. Sublimierung kann dabei als eine Ersatzbefriedigung betrachtet werden, die sich im Individuum als Bedürfnis artikuliert, weil in ihr eine sublime Form, heißt eine mit den vorherrschenden Normen und Möglichkeiten der Triebbefriedigung in Einklang zu bringende Form der Befriedigung gesehen wird. Das Bedürfnis als gesellschaftliche Kategorie ist somit gebildet in Abhängigkeit zur vorherrschenden Moralvorstellung. Es sind so falsche Bedürfnisse immer auch die, die sich in den vorgegebenen Bahnen bewegen. Was hingegen wahre Bedürfnisse sind, lässt sich aktuell nicht sagen. Bestimmt sind Bedürfnisse als falsch lediglich durch ihren das Bestehende affirmierenden Gehalt. Sich dagegen auf das Naturhafte eines Bedürfnisses zu berufen, sei nicht nur nicht möglich sondern, so Theodor W. Adorno: „stets bloß die Maske von Versagung und Herrschaft.“ Der Feststellung also, dass es sich bei Bedürfnissen um gesellschaftlich gemachte, falsche handelt, sei nicht zu folgern, dass man sich entgegen der gesellschaftlichen Präformierung von Bedürfnissen auf dessen Naturhaftes zurückbesinnen sollte. Vielmehr gälte es, die Erkenntnis, auch über die eigene Zurichtung, voranzutreiben, um mit ihr das Interesse zu stärken, den Zustand dieser Zurichtung zu überwinden.


Glück und Erkenntnis

Der Glaube, in der Befriedigung falscher Bedürfnisse Glück erfahren zu können, trägt zur Verhinderung der Erkenntnis der wahren Interessen bei. Die Individuen wägen sich als glückliche, sind es objektiv aber nicht bzw. haben eigentlich auch gar keinen Anspruch darauf. Das allgemeine Glück aber setzt die Erkenntnis des wahren Interesses voraus und dieses, so Marcuse, „kann es nicht sein, seine eigene Verkümmerung und die der anderen zu wollen.“ Diese Erkenntnis produziert ein Dilemma, denn, so Marcuse weiter, das „der Einsicht wirklich folgende [] Handeln führt entweder zum Kampf gegen das Bestehende oder zur Versagung. Die Erkenntnis verhilft ihm [dem Individuum] nicht zum Glück, und ohne sie fällt die Person wieder in die verdinglichten Beziehungen zurück. Es ist ein unausweichliches Dilemma. Genuß und Wahrheit, Glück und die wesentlichen Beziehungen der Individuen fallen auseinander.“

Gesellschaftskritik als Grundlage der Veränderung ist darüber hinaus auch immer mit Anstrengung verbunden. Komplexe gesellschaftliche Prozesse zu verstehen, ist ein kompliziertes Unterfangen und bereitet nicht immer Freude – das kann wohl bestätigen, wer keinen akademischen Hintergrund hat und sich trotzdem bis zu dieser Stelle des Textes vorgekämpft hat. Als kleine Motivation zum Weiterlesen: Genuss kann die Erkenntnis bereiten als „von äußerlichen Zweck befreiter, interessenloser intellektueller Lustgewinn“ (Adorno) – als Kontemplation.

Aber auch die Erkenntnis trägt ein negatives, ja tragisches Moment in sich. Schließlich birgt die Einsicht in die Konstituiertheit der Gesellschaft und Individuen in ihr nicht nur das Wissen über die schlechte Einrichtung der Welt, der man (fast) ohnmächtig gegenüber steht, sondern vermag es auch das aktuell erfahrbare Glück als das zu entlarven, was es ist, nämlich als verkümmertes, als nicht das, was es seinen Möglichkeiten nach sein könnte. Aber, um an dieser Stelle einmal Max Horkheimer zu bemühen, „[j]e unmöglicher der Kommunismus ist, desto verzweifelter gilt es für ihn einzutreten.“ Und nichts anderes ist gemeint, als der Kommunismus, wenn von der Objektivität des Glücks die Rede ist.


In Reminiszenz an das Glück

Eine Flucht aus der Realität, wie sie der Versuch, das zugängliche subjektive Glück in Abgrenzung zur Gesellschaft zu leben kennzeichnet, bindet an das, wovor man geflohen ist. Das tut sie einerseits dadurch, dass eine Flucht aus der Gesellschaft nicht gänzlich möglich ist, weil sich ihre Struktur in unser Innerstes eingeschrieben hat. Sie tut das aber auch, weil die Flucht, die als Alternative zum Versuch der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen werden muss, letzterem eine Absage erteilt. Um zuletzt noch Missverständnisse auszuräumen: Dies ist keine Kritik, gar Verurteilung des Bedürfnisses der Flucht aus der Realität – auch nicht dessen, diesem Bedürfnis punktuell nachzugeben. Es wäre widersprüchlich, in einem Text, der für sich beansprucht, ein wahres Urteil über diese Gesellschaft zu entfalten, das Bedürfnis zur Flucht aus dieser zu kritisieren. Ist doch das eine nur allzu verständlich eine Folge des anderen, der Einsicht in die Beschissenheit der Dinge. Kritisiert werden sollte an dieser Stelle die Illusion darüber, dass eine solche Flucht gelingen kann, dass so etwas wie allgemeines, objektives Glück im Hier und Jetzt erfahrbar ist. Dies nämlich ist ein Moment der Affirmation des Bestehenden und steht insofern dem wahren Glück, als der Überwindung der Trennung von Wahrheit und Glück, entgegen – schlecht ist diese Illusion also nicht, weil sie einzig falsch ist, sondern weil sie verewigt, was dem, worüber man sich Illusionen macht, im Wege steht.

Gleichwohl ist dieser Text ein Lob des Hedonismus. Das Lob einer sozialen Praxis nämlich, die in ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz den Glauben daran wach hält, dass eine andere Welt als diese möglich ist. Dies mag das Dilemma des leidenschaftlichen Kritikers nicht lösen, der sich in der erdrückenden Situation befindet, Zeit, Aufwand und nicht zuletzt Hoffnung seines Lebens einem Zustand zu widmen, von dem er nicht weiß, ob er je eintreten wird. Aber sie gibt einen Ausblick auf Aufhebung des Problems. Das Festhalten am Anspruch auf Glücksmomente im Hier und Jetzt, so falsch im Sinne von ideologisch sie auch sein mögen, ist hoffnungsstiftend und hält die Erinnerung wach, an die Möglichkeit einer Gesellschaft, in der das subjektive und zufällige Glück einmal objektiven Charakter erlangen kann.

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Die hiesige Bewertung des Hedonismus ist angelehnt an Marcuses Ausführungen „Zur Kritik des Hedonismus“. Seinen Begriff des falschen Bedürfnisses entfaltet er in „Der eindimensionale Mensch“.