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Zur Kritik deutscher Vergangenheitsbewältigung

Vor mehr als 70 Jahren, am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. In den Folgemonaten befreiten alliierte Soldaten dutzende Konzentrations- und Vernichtungslager. Vor 70 Jahren beendete die Anti-Hitler-Koalition damit das größten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit, den industriell organisierten Mord an Millionen Wehrlosen. 70 Jahre danach ist es nicht gelungen zu errichten, was die Überlebenden sich erhofft hatten, nämlich eine Welt, in der ein neues Auschwitz unter veränderten Bedingungen unmöglich würde. Stattdessen erleben wir ein knappes dreiviertel Jahrhundert später in Deutschland die Stunde der Vergangenheitsbewältiger. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung kennt verschiedene Strategien. Alle laufen auf dasselbe Ziel hinaus: Auschwitz vergessen zu machen.


Ablösung der Revisionisten durch die Büßer

Der Ideologiekritiker Gerhard Scheit unterscheidet bei all jenen Versuchen der Deutschen, mit ihrer verbrecherischen Vergangenheit klarzukommen, zwischen primärem und sekundärem postnazistischen Bewusstsein. Das primäre postnazistische Bewusstsein tritt in der Gestalt des gekränkten Revisionisten auf, der die Resultate des Nationalsozialismus zwar bejaht, die Forderung nach politischer Umkehr jener die Gewaltverhältnisse verstetigenden Praxis aber vergessen machen will. Jenes Bewusstsein prägte vor allem die gesellschaftlichen Entwicklungen der ersten Nachkriegsjahrzehnte mit ihren Versuchen der Relativierung, Verleugnung und offensiven Verdrängung. Auch wenn jenes postnazistische Primärbewusstsein heute noch in reaktionären und konservativen Kreisen vorherrscht, wurde es v.a. durch die sozialen Bewegungen der 60er und 70er Jahre durch das sekundäre postnazistische Bewusstsein abgelöst. In diesem kehren die ursprünglichen Motive in gewandelter Form wieder. Das sekundäre postnazistische Bewusstsein bejaht die Resultate des Nationalsozialismus in abgeleiteter Weise im Gewand des Büßers, der aus der Erfahrung der Vernichtung gelernt zu haben vorgibt und es besser machen will. Als solches ist das sekundäre postnazistische Bewusstsein heute wirkungsvoller als das primäre und hat in bußfertigen Schwätzern wie dem aktuellen Bundespräsidenten Joachim Gauck seine aktuellste Form gefunden. Der Wandel vom primären zum sekundären postnazistischen Bewusstsein beschreibt einen Prozess der Umfunktionalisierung deutscher Vergangenheitspolitik von einem Ballast, aus dem kein Kapital zu schlagen ist (deswegen wollten Adenauer, Kohl & Co. sie lieber abhaken), zu einem Potential, das der Rechtfertigung neuer Untaten dienlich sein kann. Eike Geisel spitzte diese Entwicklung mit dem zynischen Begriff der deutschen „Wiedergutwerdung“ treffend zu. Dieser Prozess der Umfunktionalisierung der Vergangenheit begreift einen Wandel von einer Politik des Beschweigens und des Relativierens der faschistischen Vergangenheit hin zur offensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Verbrechen – und das ist entscheidend – im Dienste und zum Wohle des neuen Souveräns. Die Identifikation der Deutschen mit ihrer Nation sollte nicht mehr durch Verleugnung der Vergangenheit geleistet werden, sondern durch die Integration des Erbes, die Nachkommen von Verbrechern zu sein. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz wollten die Deutschen wieder zu sich selbst finden. Als ob die ostentativ zur Schau gestellte Einsicht, dass es nicht in Ordnung sei, Europa in ein Schlachthaus zu verwandeln (eigentliche eine Selbstverständlichkeit), die moralische Erhabenheit und das neue Selbstbewusstsein des reuigen Sünders Deutschland rechtfertigen könnte. Eben weil sie aus der Vergangenheit die richtigen Lehren gezogen haben wollen, beschloss die rot-grüne Bundesregierung 1998 den dritten deutschen Militärangriff innerhalb eines Jahrhunderts auf Jugoslawien zu starten. Der damalige Grüne Außenminister Joschka Fischer führte die Lehre aus Auschwitz explizit als Argument an, um den ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945 zu rechtfertigen. Diese vermeintlichen Lehren, die Deutschland aus seiner Vergangenheit zieht, dienen letztlich nur dazu, sich als neue Ordnungsmacht zu profilieren, die entspannt an Israels Verteidigungspolitik herumnörgeln und Wirtschaftsbeziehungen mit jedem erdenklichen Terrorregime als Appeasementpolitik ausgeben kann.

Zerbombtes Belgrad
Postnazistische Logik: Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz Belgrad zerbombt

Alle hier nur angerissenen und bis in die Gegenwart fortdauernden Formen der deutschen Aufarbeitung der Geschichte hatten letztlich nicht zur Folge, die bis heute fortbestehenden Bedingungen des Faschismus bewusst zu machen und einen radikalen Bewusstseinswandel, einen Bruch im Selbstverhältnis der Einzelnen zur Gesellschaft zu erwirken. Sondern ganz im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte bleibt an der Oberfläche, dient nicht der Erkenntnis, sondern letztlich der Rechtfertigung neuer Untaten.


Faschismus und Kapitalismus

Diese Entwicklung offenbart eine traurige Erkenntnis: Die höchste Form der deutschen Vergangenheitsentsorgung ist das Erinnern. Freilich ist gegen das Erinnern an sich nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Solange die objektiven Bedingungen fortbestehen, die nach Auschwitz führten, kommt dem Erinnern eine entscheidende Bedeutung zu. Aber eben dann, wenn die Erinnerung dem Zweck dient, die Gegenwart des Vergangenen mit dem Gedenken an die konkreten Verbrechen zumindest gedanklich zurückzuholen und zu verknüpfen. Jene angesprochene Gegenwart des Vergangenen meint das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie und rührt eben daher, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die zum Faschismus führten. Jene gesellschaftlichen Voraussetzungen sind die kapitalistische Produktions- und Vergesellschaftungsweise, die, ob wir wollen oder nicht und ob wir darum wissen oder nicht, unser Leben bestimmt; eine Ordnung, die die Einzelnen in Unmündigkeit und Abhängigkeit bannt und sie um das betrügt, was das Leben verheißen könnte. Leben unterm Kapitalverhältnis bedeutet: Ausbeutung, ständig drohende oder längst Realität gewordene Verarmung, Zurichtung und Verdummung statt Selbstbestimmung und gutes Leben, statt wirklicher Freiheit und Solidarität. Die faschistische Ideologie will die Negativfolgen kapitalistischer Zurichtung durch die Verfolgung von Menschen kurieren, die selber nur Betroffene und Getriebene dieser Ordnung sind: an den Flüchtlingen, die man als Konkurrenten um die künstlich verknappten Zugänge zum Wohlstand wahrnimmt oder an den Juden, die man für die zerstörerische Dynamik des Kapitalismus verantwortlich machen will.

Das Charakteristikum der politischen Linken war einmal das Versprechen aus dieser Tretmühle der Entfremdung und Verdinglichung den Ausweg zu ebnen. Irgendwann im 20. Jahrhundert verliert sich von diesem Ziel in der Breite linker Organisationen jede Spur. Mit der sozialistischen Alternative zum Realkapitalismus schien auch eine Perspektive wirklicher Aufarbeitung der Vergangenheit, die eben mit der Abschaffung der Voraussetzungen ihrer Wiederholung verknüpft ist, verschüttet. Die faschistische Barbarei erwächst eben nicht in Gegnerschaft zur kapitalistischen Grundordnung, sondern ist als ihre Krisenform eine immer mitzudenkende Möglichkeit ihres Verfalls. Kapitalismus und Faschismus sind keine Antipoden, sondern entspringen demselben gesellschaftlichen Ordnungsgefüge, der warenproduzierenden Gesellschaft. Oder mit den Worten Max Horkheimers: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen.“


Die Linke macht mit

Eine zur herrschenden Form der ritualisierenden Geschichtsentsorgung konkurrierende Positionierung zur deutschen Vergangenheit gibt es nur in linksradikalen Nischen. Die etablierten Teile der Linken machen beim deutschen Nationbuilding mit, widersprechen nicht mehr, wenn etwa in Suhl am 8. Mai (siehe diese Ausgabe, S. 13ff) gemeinsam den deutschen Verbrechern und ihrer Opfer und Gegner gedacht wird. Zum Volkstrauertag tauchen an allen möglichen Kriegsdenkmälern der Region auch Politiker der Linken auf und schwafeln von Versöhnung über den Gräbern. Die aktuelle deutsche Linke macht Staatspolitik oder würde das zumindest gern. Sie verfängt sich in realpolitischen Sachzwängen und akzeptiert die Logik ihrer Verwaltung. Dabei bleiben im „Spiegelspiel der Politik“ (Bruhn), das den Staat nicht als Herrschaftsapparat, sondern als neutrales Instrument beliebiger Zwecke imaginiert, zentrale Lehren aus der deutschen Geschichte auf der Strecke, weil sich mit dem gegenwärtigen Zustand identifizieren oder zumindest arrangieren muss, wer ihn verwalten will statt ihn zu revolutionieren.

Vergangenheitspolitisch bedeutet das: Mehr als die gegenwärtige Umfunktionalisierung der deutschen Vergangenheit zu einem moralischen Kapital der Nachfahren und Parteigänger der Täter ist wohl nicht drin. Sie entspricht dem gegenwärtigen Interesse deutscher Staatspolitik. Wie offensiv auch die sich sonst eher radikal gebende linke Parteijugend in Thüringen das (gar nicht mehr so) neue deutsche Nationbuilding betreibt, zeigt sich an einer Posse im Vorfeld des 8. Mai, als u.a. Linksjugend und Jusos den Landtagspräsidenten Christian Carius (CDU) aufforderten, sich zum Terminus der Befreiung zu bekennen. Als Teil der moralisch geläuterten Büßergemeinde sollen auch die Konservativen sich heute auf die Seite der Sieger stellen und die geschichtliche Wahrheit vergessen machen, dass die Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit niemals befreit, sondern besiegt worden.

Hier und da bröckelt die Fassade des Büßers ohnehin schon und der Stahlhelm des deutschen Wesens tritt hervor. Schließlich unterwirft man Griechenland nicht im Büßerhemd, das sich Schäuble und Merkel nur zu festen Ritualen anziehen und das nicht die gegenwärtige deutsche Hegemonieproduktion in der Eurozone gefährden darf. Wenn heute also die deutsche Bundesregierung die griechische Bevölkerung und ganz nebenbei, ihre gewählte (linke) Regierung in die Knie zwingt, dann hat all das freilich mit dem Vergangenen zu tun. Es ist der neue german way der Unterwerfung der Nachbarn, nicht mehr militärisch bei diesen einzufallen, sondern sie finanziell abhängig zu machen und früher oder später quasi auszuplündern. Dabei schüren beinahe alle großen deutschen Medien in einer gemeinsamen Kampagne gegen Griechenland den Hass deutscher Rentner und Arbeitnehmer auf griechische Rentner und Arbeitnehmer, um zu verdecken, dass das Problem seine Wurzeln zum einen in den Widersprüchlichkeiten kapitalistischer Vergesellschaftung und zum anderen im deutschen Expansionismus, heute eben zunächst wirtschaftlicher statt militärischer Natur, hat.

Transparent – Deutschland denken heißt Auschwitz denken

Antifaschistische Geschichtspolitik ist antideutsch

Weil große Teile der deutschen Linken im Kampf um parlamentarische Einflusssphären vergessen haben, dass die Zerstörung Europas vor mehr als 70 Jahren und der Mord an den europäischen Juden die Handschrift deutscher Ideologie trug und es nach Auschwitz darum gehen müsste, dieser deutschen Ideologie und ihrer Praxis der Unterwerfung um der Unterwerfung willen das Handwerk zu legen; deswegen nimmt auch die Gedenkpolitik dieser Linken Züge des leeren und kalten Vergessens an, selbst dort, wo man das Gegenteil behauptet. Eine antifaschistische Geschichtspolitik, die das Nachleben des Nationalsozialismus in den Blick nimmt, befördert an allen Stellen den Bruch mit Deutschland und seiner Ideologie, die im Gebaren „besorgter Bürger“ und der Unterwerfung Griechenlands durch die Bundesregierung und ihre Hofpresse immer wieder zum Durchbruch kommt. Antifaschistische Geschichtspolitik erinnert an die Erkenntnisse der Überlebenden, etwa der H.G. Adlers, der angesichts der Grauen der Lager konstatierte, Hitler und die Deutschen hätten „die ganze Welt zu einem einzigen Übel verdorben.“ Das gilt auch für die heutige Gesellschaft, die, weil sie nicht ganz anders geworden ist, neue Verbrechen in Kauf nimmt. Antifaschistische Gedenkpolitik betreibt Aufklärung über die kapitalistische Zerstörung der Welt und die Möglichkeit ihres Zerfalls in ein faschistisches Barbarentum, das unter deutscher Regie nur das Schlimmste hervorgebracht hat. Im Jahr 70 nach der deutschen Niederlage mögen die sich geläutert gebenden Deutschen mit jener Kränkung ihren Frieden gemacht haben, während sie durch leeres Erinnern Auschwitz vergessen machen und durch wirtschaftliche Expansion deutsche Einflusssphären ausweiten. Für die radikale Linke sind das viele gute Gründe mit Deutschland keinen Frieden zu machen.