Am 2. März 2015 verteilte die Antifa Suhl/Zella-Mehlis bei den Gegenprotesten zum siebten SÜGIDA-Aufmarsch ein Flugblatt, das die öffentliche Empörung über die „Nie wieder Deutschland!“-Rufe der vergangenen Wochen aufgreift und begründet, warum die von einigen formulierte Deutung, die Antifa könnte damit vielleicht das Deutschland von 1933 bis 1945 meinen, falsch ist. Die Antifa meint das heutige Deutschland, das seine Vergangenheit niemals abgelegt hat und in dem, wie Adorno einst formulierte, „die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“ Wir dokumentieren das Flugblatt.
Nirgendwo in zivilisierten Ländern ist so wenig Grund zum Patriotismus wie in Deutschland, und nirgendwo wird von den Bürgern weniger Kritik am Patriotismus geübt als hier, wo er das schlimmste vollbracht hat. [...] Unansprechbar, weil unreflektiert und von keinem vernünftigen Grund gestützt, vom Westen schlau die Reputation erborgend, man sei ein liberales Volk, man teile die politische Geschichte mit der freien Welt, schickt man sich an, der Freiheit den nächsten Streich zu spielen. Die Kotaus [=Verneigungen] vor den Widerstandskämpfern, die offiziellen Absagen an den Antisemitismus, von den Synagogenbesuchen der Bürgermeister bis zum Schweigen bei Anne Frank, all dieses bereits kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue hat bloß die Funktion, sich zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen, sofern es nicht bloße Reklame für amerikanische Foundations ist. Der Patriotismus in Deutschland ist so furchtbar, weil er so grundlos ist.
(Max Horkheimer, 1959)
Die einen demonstrieren gegen Flüchtlinge und die offene und solidarische Gesellschaft, die es nicht gibt. Die anderen halten sie hoch und werben für Verständnis mit den Geflüchteten. So unterschiedlich die Lager in Suhl auch erscheinen, in einem sind sie sich einig: Militante Faschisten, Nützlichkeitsrassisten, „besorgte Bürger“, Antisemiten, bekennende Christen, Sozialdemokraten, die ganze Zivilgesellschaft – alle wollen für Deutschland nur das Beste. Im Aufruf der NoSÜGIDA-Gruppe heißt es deshalb, man begrüße die Aufnahme von Flüchtlingen, weil man der Überzeugung sei, „dass unser Land gewinnt, wenn es auch weiterhin Flüchtlinge aufnimmt“. Die Nazis von SÜGIDA vertreten die diametral entgegengesetzte Position: Deutschland zahle für Menschen für deren Schutz es nicht verantwortlich sei und die lieber woanders sterben sollen. In moralischer Hinsicht sind die Nazis ihren Gegnern unterlegen, das Credo „Hauptsache für Deutschland“ bleibt das selbe. Dass eine kapitalistisch zugerichtete Gesellschaft nicht von ihrem nationalen Zwangskollektiv als identitärem Anker lassen, es je nach Standpunkt aber anders definieren möchte, ist nicht ungewöhnlich. Politisch verwerflich ist das (aus der Perspektive des von uns vertretenen linksradikalen Antifaschismus) überall, aber in Deutschland ist der Patriotismus angesichts der deutschen Vergangenheit und ihrer ungebrochenen Kontinuität in der Gegenwart nur umso widerlicher.
Eine deutsche Besonderheit hat schon Karl Marx in seinen Frühschriften beschrieben: Bei der deutschen handelt es sich um eine nichtrevolutionäre Gesellschaft, die die Revolutionen, die andere Gesellschaften erkämpften, nicht, ihre Restaurationen sehr wohl mitvollzog. Marx spitzte diese Entwicklung mit den Worten zu, die Deutschen befänden sich in ihrer Geschichte „immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.“ Bezogen etwa die Franzosen und die Amerikaner ihre nationale Identität in revolutionären Erhebungen gegen feudale Ordnungen, in den Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, so stürzte in Deutschland der Obrigkeitsstaat erst auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, um einige Jahre später in Hitlers Führerstaat und Volksgemeinschaft wiederaufzuerstehen. Diese deutsche Volksgemeinschaft fand zwischen 1933 und '45 ihre Identität in einer anti-bürgerlichen Revolte gegen die kapitalistische Moderne. Ihr Antisemitismus identifizierte und verfolgte die unverstandene, abstrakte und als negativ empfundene Seite kapitalistischer Vergesellschaftung in den europäischen Juden. Noch heute ist das, also die Rationalisierung kapitalistischer Undurchsichtigkeiten in den handelnden „heimlichen Lenkern der Welt“, der Kern antisemitischer Ideologie. Die Deutschen fanden ihre innere Einheit und Identität erst in der fast vollständigen Vernichtung der europäischen Juden. Diesem Projekt der totalen Vernichtung wurde, je näher die Alliierten rückten, höchste Priorität eingeräumt und etwa wichtige Kapazitäten im Schienenverkehr nicht für die Unterstützung der Truppen, sondern die Transporte der Juden eingesetzt.
Das Symbol der französischen Revolution war der Sturm der Bastille 1789, das der deutschen die Wannsee-Konferenz 1944. In Auschwitz wurde nicht nur die Idee der einen Menschheit und die Hoffnung auf die Befreiung vom Joch kapitalistischer Ausbeutung zerstört; in den deutschen Vernichtungslagern rotteten die Deutschen nicht bloß Millionen Wehrlose aus, sie kamen zu sich selbst, offenbarten das Wesen dessen, was deutsch ist. Deutsch ist die konformistische Revolte gegen das bürgerliche Glücksversprechen, deutsch ist der antisemitische Furor, die Vernichtung um der Vernichtung willen. Das was deutsch ist, ist keine Mentalität, keine vererbbare Haltung zur Welt, deutsch ist das „Produktionsverhältnis des Todes“ (ISF), deutsch ist die zur Vernichtung schreitende Antwort auf die kapitalistische Dauerkrise, eine spezifische Form kapitalistischer Vergesellschaftung: die negative Aufhebung des Kapitals auf dessen eigener Grundlage. Die deutsche Gesellschaft verwandelte sich im Zeichen der Liquidierung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, der Reintegration des Heeres an (deutschen) Überflüssigen, die der Kapitalismus produziert und der Krisenbearbeitung in ein Mordkollektiv undenkbaren Ausmaßes.1 Dass dieses Land und seine Ideologie 1945 nicht zerstört und die Deutschen nicht umfassend entnazifiziert wurden, ist ein Versäumnis mit unabschätzbaren Folgen.
Der Nationalsozialismus lebt nach. Er lebt nach in den Verhältnissen, die ihn ermöglicht haben und die statt grundlegend revolutioniert, restauriert worden. Der Nationalsozialismus ist zwar militärisch besiegt, aber nie gänzlich bezwungen worden. Die Welt ist nach Auschwitz keine ganz andere – das hatten nicht wenige Überlebende als verzweifelte Hoffnung formuliert. Und auch die deutsche Ideologie ist nicht verschwunden, sondern hat sich in weiten Teilen, etwa was den Antisemitismus in Deutschland betrifft, transformiert und in anderen Erdteilen quasi epidemisch ausgebreitet.
Der Irrglaube, 70 Jahre nach dem Abbruch der Shoah sei der Antisemitismus als Teil der deutschen Leitideologie verschwunden, ist nicht bloß deshalb absurd, weil in Auschwitz nicht die Antisemiten, sondern die Juden vernichtet wurden. Die Antisemiten waren im neuen deutschen Staat wieder zu angesehenen Staatsämtern gekommen, ohne je wirklich zur Rechenschaft gezogen worden zu sein und ohne je ernst zu nehmende Anzeichen von Trauer, Schuld oder Sühne zu zeigen. Eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit, die die fortbestehenden Voraussetzungen für die faschistische Barbarei beseitigen müsste, fand nicht statt.
Die überlebenden Juden erkämpften sich mit Hilfe der Alliierten ihren eigenen Staat und wehren sich heute nach Kräften gegen das schlimmste deutsche Exportprodukt im Nahen Osten: den eliminatorischen Antisemitismus, der im Antizionismus seine postnazistische geopolitische Reproduktion erfahren hat. Die Solidarität mit Israel, mit dem Staatszweck des Zionismus, ist deswegen für Antifaschisten das Gebot der Stunde, ganz egal welche Regierung in Tel Aviv die Geschicke des Landes bestimmt. Ein solcher israelsolidarischer Antifaschismus bekämpft islamistische Mörderbanden wie Hamas und IS genauso wie die in Deutschland hervorgebrachten Formen eines modernen Antisemitismus nach Auschwitz. Dieser Antisemitismus hat sich grundlegend transformiert und tritt heute in diversen Formen etwa als Schuldabwehr-Antisemitismus, Antizionismus oder struktureller Antisemitismus in Erscheinung. Letzterer ist der Kern einer Bewegung, die sich im vergangenen Jahr gebildet hat. Die „Mahnwachen für den Frieden“ haben deutschlandweit (in Thüringen: Erfurt und zeitweise Jena) der antisemitischen Ideologie von der jüdischen Weltverschwörung wieder eine öffentliche Plattform verschafft und dazu beigetragen, dass sich Verschwörungsantisemitismus über soziale Netzwerke besser verbreitet als die Klatsch-News der Bild-Zeitung.2 Unterstützt wurde diese Bewegung – das soll hier nicht verschwiegen werden – von einem Redner der Suhler Anti-SÜGIDA-Proteste, dem Weitersrodaer Schlossbesitzer und linken Liedermacher, Florian Ernst Kirner, auch bekannt als Prinz Chaos II.
Während an der deutschen Basis der Antisemitismus fröhlich Urstände feiert, flankiert von einer deutschen Linken, die vom Antisemitismus nichts begreifen will, steht die Bundesregierung mehr schlecht als recht an der Seite Israels, was nicht nicht heißt, dass führende SPD-Politiker, wie der Vize-Kanzler Sigmar Gabriel nach einem Besuch in den Palästinensergebieten 2012, Israel nicht auch mal als Apartheid-Regime bezeichnen kann. Die selbstauferlegte Zurückhaltung der deutschen Regierung gegenüber Israel bröckelt. Im Hinblick auf den Streit des israelischen Staates mit der islamischen Republik Iran und dessen atomarem Vernichtungsprogramm verheißt das nichts Gutes.
Die in Deutschland von den alliierten Siegermächten installierte parlamentarische Demokratie trägt als Geburtsmal die Vernichtung des europäischen Judentums. Der Staat des Grundgesetzes machte sich die Gemeinschaft der Nürnberger Gesetze und der Wannsee-Konferenz zum Staatsvolk. 70 Jahre später mögen die Täter beinahe verschwunden sein, mit ihrer Ideologie wurde letztlich nicht gebrochen. Wie die zwangsdemokratisierten Deutschen reagieren, wenn sie einige tausend Flüchtlinge im Land des Überflusses ertragen müssen, erleben wir jeden Montag in Suhl. Die Flüchtlinge sollen woanders krepieren, weil sie in Deutschland einerseits nicht zur Verwertung taugen und andererseits die Verwertungsbedingungen der deutschen Arbeitskräfte durch Konkurrenz verschärfen könnten. Die Antwort der besorgten Bürger im Kampf für die Abschottung der Armen der Welt heißt Rassismus und dieser ist, das zeigen jüngere Erhebungen, heute durchaus mehrheitsfähig in weiten Teilen Ostdeutschlands. Das Produktionsverhältnis des Todes bringt nunmal entsprechende Sozialcharaktere hervor, von denen ohne den Befehl von oben immer nur ein Bruchteil auf die Straßen geht. Überall wo der Putz der alliierten Zwangsdemokratisierung bröckelt, kommt die hässliche Fratze des deutschen Wesen, der Kampf gegen vermeintliche „Volksschädlinge“, zum Vorschein, das nie durch Entnazifizierung und Re-education zerstört werden konnte und das die Rückkehr zur deutschen Barbarei denkbar macht, weil die Bedingungen fortbestehen, die sie einst ermöglichten.
Und so sind die Deutschen, die nicht ablassen wollen solche zu sein, immer eine Bedrohung für die Welt. Auch wenn sie gerade nicht mordend und brandschatzend Europa in Trümmer legen. In Griechenland zermürbt die von Deutschland geführte Troika heute die griechische Gesellschaft ohne Militär durch einen „Wirtschaftskrieg“ (Konicz). Und da wo sie ihre Interessen nicht vermittels ökonomischer Repressalien durchsetzen können, steht zu befürchten, dass das alte Bündnis aus Mob und Elite die Deutschen wieder als das entblößt, was nur durch alliierte Bomberflotten und Panzerverbände zu brechen war: das Mordkollektiv im Wartestand, gegen das überall Widerstand zu organisieren, Sache von Antifaschisten ist. Dieser Antifaschismus ist antideutsch oder er hat seinen Gegenstand nicht begriffen.
Was bleibt, ist die heute fast grundlose Hoffnung darauf, dass, und sei es durch eine List der Vernunft oder die Hilfe des Auslands, die von Marx beschworene Emanzipation der Deutschen zu Menschen doch noch gelingen werde, weil „der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden“ einschlägt. Bisher wuchert auf diesem naiven Volksboden nur der Hass und die Borniertheit, dem wohl auch die Liebe zum Vaterland entspringt. Solcher Spinnerei sind die nüchternen Worte Wolfgang Pohrts entgegenzuhalten, wonach „sich zwar niemand das Land, in dem er geboren, und die Sprache, in der er erzogen wird, aussuchen kann. Die Entscheidung aber, jene Zufallsbedingungen, denen er seine Existenz verdankt, zu schätzen oder zu verfluchen, steht jedem frei. Wer Gründe findet, ausgerechnet dieses Land zu schätzen, soll sie nennen. Wer keine findet und trotzdem liebt, soll schweigen, was jemanden im Innersten seines Herzens bewegt, geht uns nichts an.“
Zum besseren Verständnis bzw. zur Vertiefung empfehlen wir: Mario Möller: Zum Gegenstand antideutscher Kritik. Oder: Was ist deutsch? Erschienen in: Bonjour Tristesse #8 & #9.
Zur Vertiefung verweisen wir auf einen unserer Redebeiträge, gehalten am 7. November 2014 in Erfurt: http://agst.afaction.info/index.php?menu=news&aid=670