Als am 24. März dieses Jahres ein Passagierflugzeug in den französischen Alpen zerschellte, weil ein Pilot nicht mehr leben wollte und 149 weitere Menschen mit in den Tod nahm, war die Bestürzung auch unter deutschen Neonazis, die vergeblich nach einem islamistischen Hintergrund suchten, groß. Eine Sondersendung jagte die nächste, Deutschlands erster Kommunistenjäger Gauck brach seinen Urlaub ab, die Kanzlerin und ihr halbes Kabinett besichtigte die Unfallstelle per Helikopter, Flaggen an deutschen Behörden hingen tagelang auf Halbmast. Der deutsche Betroffenheitsschwindel wurde nur noch von der Geiferei nach neuen abgründigen Details des Katastrophenherganges übertroffen.
Wenn im Massengrab Mittelmeer Flüchtlingsboote kentern und Menschen, die aus Krieg, Hunger und Not fliehen, ertrinken, gibt es keine Sondersendungen, Politiker ziehen keine verkniffenen Gesichter, mit denen sie Bestürzung signalisieren wollen, keine Fahne hängt auf Halbmast und in sozialen Netzwerken reichen nur die üblich-verdächtigen Flüchtlingsorganisationen die Randmeldungen der Tageszeitungen über das Unglück herum.
Die Katastrophen, die sich alltäglich im Mittelmeer abspielen sind – auch auf kurze Sicht – vermeidbar, das Unglück in den französischen Alpen war es nicht. Wenn ein Mensch dutzende andere mit sich in den Tod reißen will, dann findet er Mittel und Wege. Wer wüsste das besser als die Deutschen? Die, die es über das Mittelmeer oder auf anderen Wegen nach Europa schaffen, erfahren hier häufig keine Solidarität, keinen Schutz, nicht mal menschliches Verständnis, sondern den durch Neid und Konkurrenzangst getriebenen Hass der Eingeborenen, die um ihre Privilegien und den Anschluss an die bessere Gesellschaft fürchten.
In Arnstadt – Thüringens Hochburg des Protofaschismus von AfD, Pro Arnstadt und Stadtecho – ist das nicht anders. Das zeigt die angekündigte Unterbringung von einigen Flüchtlingsfamilien in Abrissblöcken des Wohngebietes Rabenhold.
Es war ein denkwürdiger Abend, jener 12. Februar in der Aula des ehemaligen Neideck-Gymnasiums. Die von Landrätin Petra Enders (Die Linke) und Arnstadts Bürgermeister Alexander Dill (parteilos) anberaumte Informationsveranstaltung anlässlich der Unterbringung von 142 geflüchteten Menschen in für den Abriss vorgesehenen Plattenbauten im Stadtteil Rabenhold wurde zum Schauplatz eines verbalen rassistischen Fanals. Nazis und „besorgte Bürger“ aus Arnstadt und Umland (wenn man Erfurt dazu zählen möchte) störten und unterbrachen die Veranstaltung immer wieder mit Gegröle, Gejohle, Spott und durch von rassistischem Hass getriebene Zwischenrufe. All die geleistete Aufklärung und das Werben um Empathie durch die Verwaltung des Ilm-Kreises und zivilgesellschaftliche Akteure waren vergebens. Die Rassisten kamen nicht, um zu begreifen. Sie wollten Dampf ablassen. In einem Bericht der Antifa Arnstadt-Ilmenau zu besagtem Abend heißt es folgerichtig:
„Der ganze Abend beruhte auf einem Irrtum. Landrätin Petra Enders dachte, wenn sie die Leute nur gut genug informiert, würden sich deren Ängste schon auflösen. Das Problem des Rassismus besteht aber nicht in einem Mangel an Information, deswegen war all das gute Zureden, der Versuch des Widerlegens der „Ängste“ vom Verlust des Kindergartenplatzes bis zur steigenden Kriminalitätsrate verlorene Liebesmühe. Die Rassisten wollten keine Informationen oder diverse Wissenslücken schließen, sondern empathielos und aufklärungsresistent bis ins Mark zum Ausdruck bringen, dass man Flüchtlinge hier nicht haben will, dass einem die Fluchtgründe scheißegal sind und dass Menschen überall krepieren können, bloß nicht zu nah am eigenen Gartenzaun.
Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, eine Strategie, mit der die bürgerlichen Subjekte sich die bestehenden Verhältnisse rechtfertigen, ohne sich ihre eigene Überflüssigkeit in diesen Verhältnissen eingestehen zu müssen. Mit Angst vor der ausländischen Konkurrenz klammern diese Leute sich an die Versprechungen des nationalen Kollektivs, das Fremde von der Fürsorge der Gemeinschaft ausschließen soll und ihnen Identität und Halt verschafft. Sie wollen das Elend und die Armut nicht in der eigenen Nachbarschaft sehen, weil sie insgeheim wissen, dass nur die Gnade der deutschen Herkunft sie derzeit noch vor dem Schicksal bewahrt, das andere längst getroffen hat. Und anstatt sich mit den hier gestrandeten Verdammten dieser Erde zusammenzuschließen und gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft zu streiten, in der keiner mehr ein entrechtetes, verlassenes und verächtliches Wesen ist, rechtfertigen sie diese Ordnung und pochen auf ihr qua Geburt vermachtes Privileg. Mit solchen Leuten ist keine andere Gesellschaft möglich, sondern nur gegen sie.“1
Die Arnstädter Neonazis um Nicole und Sven Krämer hatten ihre Kameraden fleißig zur Informationsveranstaltung eingeladen. Selbst NPD-Stadtrat Enrico Biczysko aus Erfurt war angereist und filmte Teile der Veranstaltung ab. Jene Krämers, selber Bewohner des Wohngebietes Rabenhold, bilden zusammen mit Michaela Sidon und weiteren Faschisten den Kern einer neu ins Leben gerufenen „Patriotischen Bürgerbewegung für Arnstadt“ (PBFA). Als solche traten die Arnstädter Faschisten bereits in Suhl, Ohrdruf und Erfurt bei den dortigen PEGIDA-Ablegern in Erscheinung. Sidon hielt auf einer Nazidemo in Ohrdruf am 21. März sogar einen Redebeitrag.
Im Wohngebiet selber begannen die Krämers bereits mit einer Unterschriftensammlung gegen die Unterbringung der Geflüchteten. Ende Februar hingen das Ehepaar und Michaela Sidon beschmierte Bettlaken mit rassistischen Parolen aus ihren Fenstern am Rabenhold. Zu einer Massenbewegung ist die Gruppe allerdings noch nicht gewachsen. Auf sozialen Netzwerken klagt Sven Krämer über mangelnden Rückhalt. Erlösung soll der Zusammenschluss mit rassistischen Basisinitiativen aus anderen Städten bringen. Dass die PBFA in den kommenden Wochen im Rahmen von THÜGIDA Arnstadt zum Aufmarschziel erklärt, ist jedenfalls wahrscheinlich. Bis Redaktionsschluss (6. April) lagen uns hierzu allerdings keine Informationen vor.
Nun sind beschmierte Bettlaken über dem eigenen Balkon und sittenloses Gegröle bei Informationsveranstaltungen nicht jedes Rassisten Sache. Gerade in Arnstadt gibt eine traditionsreiche protofaschistische Clique, die längst im Establishment angekommen ist. Wer beinahe zwei Jahrzehnte (1994–2012) den Bürgermeister und bis dato die größte Fraktion im Arnstädter Stadtrat stellt, der weiß andere Möglichkeiten und Umgangsformen, um gegen Geflüchtete zu hetzen. Der Filz um die Ilm-Kreis-AfD, Pro Arnstadt und das Arnstädter Stadtecho ist sich mit den Faschisten aus der sozialen Unterschicht am Rabenhold zwar einig was die Zielsetzung angeht, über das Vorgehen von Krämer, Krämer und Sidon rümpft man aber im Lager der Bessergestellten die Nase. Eine Resolution des Stadtrates nach den Ereignissen des 12. Februar für „Anstand“, eine „humane und christliche Lebenseinstellung“, „menschliche Solidarität sowie kulturelle Offenheit“ lehnte „Pro Arnstadt“ als einzige Fraktion im Arnstädter Stadtrat ab. Die „Sorgen der Bevölkerung“ seien zu wenig berücksichtigt worden.
Im Zentralorgan des Arnstädter Protofaschismus, dem monatlich erscheinenden Anzeigenblatt Arnstädter Stadtecho, echauffieren sich kultivierte Rassisten wie Joachim Kreckow über die Umgangsformen des Pöbels, an deren Geschrei er deren Bildungsstand abliest. Sein Blattchef Stefan Buchtzik, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Pro Arnstadt, empört sich derweil wortreich und sittenkonform über den Vorschlag des Linke-Stadtrates Frank Kuschel, der anregte die leerstehenden Gebäude An der Weiße zu Quartieren für Flüchtlinge umzurüsten. Mit Flüchtlingen in den Randbezirken könnte sich Buchtzik ja noch zähneknirschend arrangieren, aber Notleidende in der Innenstadt unterzubringen, geht ihm eindeutig zu weit. Überhaupt fragt Buchtzik sich und seine Leserschaft, wer das alles bezahlen soll. Freilich weiß er die Antwort schon und eigentlich lautet die Frage ohnehin: Muss dieser ganze Aufwand der Menschenrechte wegen wirklich sein? Auch dieses Mal weiß die lokale Antifa Licht ins Dunkel von Buchtziks Suggestivfragestunde zu bringen:
„Egal ob Unterschichten-Nicole oder Mittelschichten-Stefan – an Mitgefühl mangelt es Abstiegsgeängstigten und Wohlstandschauvinisten gleichermaßen. Dass die BRD so einen Firlefanz wegen der Menschenrechte veranstaltet, können beide nicht verstehen. Der Sache nach ist das bloß konsequent. Nur idealistische Sozen glauben noch daran, dass die Menschenrechte wie etwa das Prinzip der Gleichheit zum Wohle der Schwachen erfunden wurde und universal zu gelten hätte. Gleich ist in dieser Gesellschaft, das wissen die Protofaschisten instinktiv, nicht der Schutz suchende Mensch, sondern die austauschbare Ware und weil die Flüchtlinge nichts dabei haben als ihre Arbeitskraft und diese sich hier nicht so leicht verkaufen lässt, sind sie Überflüssige, die zur Verwertung nicht taugen und die man durchfüttern muss. Das lässt sich der Mittelständler bei den volksdeutschen Hartzis vielleicht noch gefallen, aber hinter der Oder-Neiße-Linie hört die Freundschaft auf. Die Menschenrechte sind das ideologische Blendwerk einer menschenfeindlichen Gesellschaft und Buchtzik und Kreckow wissen das, deswegen halten sie sich gar nicht lange mit ihnen auf.“2
Den „kritisch“ fragenden Protofaschisten aus Arnstadts Mittelschicht geht es, wie dem faschistischen Pöbel aus der Unterschicht, nicht um Aufklärung. Sie bringen nicht die wirklichen Ursachen von Flucht, Krieg, Hunger und Not auf die Tagesordnung. Die herrschende Produktionsordnung verwechseln sie mit einer menschlichen Natur. Fressneid und Existenzkampf sollen zum Leben gehören. Dass sie der Zufall der Geburt auf die Sonnenseite der Welt verschlug, ist ihnen kein Grund statt der Armen einfach die Armut zu bekämpfen. Ihr Rassismus gilt nicht der Rettung irgendeiner abendländischen Kultur, sondern der Sicherung der Privilegien von Bessergestellten, die den human waste, als den der Kapitalismus das Heer der Überflüssigen behandelt, von sich fern halten wollen, so lange es geht.
Aber auch in Arnstadt kämpfen Antirassisten gegen die Windmühlen des Hasses, gegen die Ressentiments von Menschen, die Fremde als Bedrohung der eigenen Existenz begreifen müssen, weil sie nicht verstehen wollen, dass die Flüchtlinge unter derselben Verwertungslogik viel schlimmer zu leiden haben. Diese Antirassisten kämpfen für die Rechte von quasi Rechtlosen, die sich in Deutschland durch den Behördendschungel wühlen müssen, um nach Rudimenten von dem zu fischen, was ihnen das Postulat der Menschenrechte in der ersten Welt in Aussicht stellte: ein Leben in Würde und Unversehrtheit. Das Willkommen-Büro in der Bahnhofstraße 22 bietet zweimal die Woche kostenfreie Beratungen für Geflüchtete an und auch das Jugend und Kultur Kollektiv aus Arnstadt beteiligt sich beispielsweise an Spendensammlungen.
Es gibt also auch in Arnstadt Menschen, für die sind Anstand und Empathie nicht bloß leere Wörter, die trotzen der menschenfeindlichen kapitalistischen Verwertungslogik noch Menschlichkeit ab. Und es gibt deutsche Neonazis und Protofaschisten. Dieses Pack werden wir nicht los, solange die Produktionsordnung und die deutsche Weise ihrer Bewältigung das bleiben was sie sind. Das ist nicht schön, aber Deutschland.
Das Ehepaar Nicole und Sven Krämer wohnt im Wohngebiet Rabenhold in der Prof.-Frosch-Straße 11. Beide pflegen spätestens seit der NPD-Wahlkampftour 2014, die am 22. August und am 14. September in Arnstadt Station machte, enge Kontakte zur NPD, genauer: zum Ex-Landeschef Patrick Wieschke aus Eisenach und dem Leiter des NPD-Landesorganisationsdienstes Hannjo Wegmann aus Erfurt.
Beide nehmen regelmäßig an Veranstaltung von NPD und anderen faschistischen Organisationen und Gruppen teil. Anlässlich der Ankündigung der Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft auf dem Rabenhold gründeten sie die „Patriotische Bürgerbewegung für Arnstadt“ und schlossen sich dem Netzwerk „Thüringen gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (THÜGIDA), das sich aus dem ersten Thüringer PEGIDA-Ableger SÜGIDA entwickelte, an.
Michaela Sidon wohnt wie die Krämers im Wohngebiet Rabenhold in einem Plattenbau Am Fürstenberg. Sie gehört zum engeren Kreis der „Patriotischen Bürgerbewegung für Arnstadt“ und trat am 21. März auf einer Nazidemo in Ohrdruf als Rednerin auf. Sidon ist jene Frau, die während der Bürgerversammlung am 12. Februar behauptete, Migrantenkinder würden ihr eigenes Kind mobben und verprügeln. Im Wohngebiet ist sie nicht gerade wohlgelitten. Als die passionierte Mutter am Abend des 25. Februar den Rechtsrock mal wieder zu laut aufdrehte, bewarf ein 14-jähriges Mädchen den Balkon von Sidon mit einer Gipskugel, weil sie sich vom Lärm belästigt fühlte. Man sollte Sidon daran erinnern, wenn sie in die Jammergesänge einstimmt, falls sich demnächst mal die Flüchtlinge auf dem Rabenhold nicht an deutsche Abendruheregelungen halten sollten.
Den kompletten Bericht gibt es online: http://agst.afaction.info/index.php?menu=news&aid=700
Den kompletten Bericht zur Kritik zweier Spielweisen des Rassismus in Arnstadt gibt es online: http://agst.afaction.info/index.php?menu=news&aid=708