Erfurt/Friedrichroda: Erst tanzen, dann protestieren
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Eintragsdatum: 2016-11-17 — Quelle: Jungle World
In der Jungle World vom 17. November erschien ein Bericht über die Aktionen der Kampagne „Volkstrauertag abschaffen“ in Thüringen. Lionel C. Bendtner berichtet über die Nachttanzdemo und Kundgebung in Friedrichroda und nimmt eine kurze Einordnung des Volkstrauertages als Ausdruck deutscher Gedenkpolitik vor. Wir dokumentieren den Artikel.
Dunkel und kalt war es. Dennoch versammelten sich am Samstagabend etwa 80 Menschen am Erfurter Hauptbahnhof. Sie demonstrierten unter dem Motto »Ihr trauert, wir feiern!« für die Abschaffung des für diese Nacht geltenden Tanzverbots. Am Tag darauf war nämlich »Volkstrauertag«. An diesem Feiertag sind in Thüringen sämtliche musikalische Veranstaltungen verboten.
»Nicht nur das Tanzverbot, sondern auch der ›Volkstrauertag‹ an sich steht im Fokus unserer Demonstration«, sagte eine Kundgebungsteilnehmerin der Jungle World. »Der sogenannte Volkstrauertag ist ein Gedenktag, an dem allen Opfern der beiden Weltkriege gedacht werden soll.« So würden getötete deutsche Täter auf eine Stufe mit den Opfern des deutschen Vernichtungsantisemitismus gestellt. »Das ist für uns nicht tragbar«, so die Demonstrantin. Mit einem LKW und zwei DJs zogen die Demonstrierenden durch Erfurt und machten mit Musik, Tanz sowie zwei Redebeiträgen auf ihr Anliegen aufmerksam. Das Bündnis »Volkstrauertag abschaffen!«, das die Nachttanzdemonstration veranstaltete, beschäftigt sich seit 2009 mit der Kritik am »Volkstrauertag« und organisiert Proteste gegen das »Heldengedenken« von Thüringer Nazis.
Während heutzutage die Bundesländer den zeitlichen Umfang der Feierprohibition bestimmen, verhängten die Nazis während des Zweiten Weltkriegs allgemeine Tanzverbote, um ihre Unterstützung für die Wehrmachtsoldaten zu bekunden. Tänze wie Swing oder Tango wurden wegen ihrer Unsittlichkeit gleich komplett verboten. Um so wichtiger war dem Regime die Propagandawirkung des in der Weimarer Republik eingeführten »Volkstrauertags«. Er wurde 1934 in »Heldengedenktag« umbenannt.
Die deutsche Gedenkpolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Nachdem Politik und Bevölkerung jahrelang nicht über den Nationalsozialismus sprechen wollten und Schuldabwehr betrieben, gibt es inzwischen zahlreiche Gedenkveranstaltungen, die an die deutschen Verbrechen erinnern. Man geriert sich als Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung und behauptet, aus der Geschichte gelernt zu haben. Auf dieser Grundlage befürworten heutzutage deutsche Politiker militärische Auslandseinsätze. Auch auf diese Kontinuitäten von Tanzverbot und Kriegspropaganda sollten die Proteste hinweisen.
Am Sonntag rief das Bündnis zu einer Kundgebung gegen das »Heldengedenken« der Nazis im westthüringischen Friedrichroda auf. Dem Aufruf folgten 35 Menschen. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Proteste, die sich auch gegen das Verhalten der Bevölkerung der Kleinstadt richteten. Wegen ausbleibenden Widerstands gegen den jährlich stattfindenden Naziaufmarsch verlieh das Bündnis beispielsweise 2014 der Gemeinde symbolisch einen goldenen Scheißhaufen. Auch mehrere satirische Flugblätter wurden in den vergangenen Jahren verteilt, um die Ignoranz zu kritisieren. Am Desinteresse der Bevölkerung scheint das nichts geändert zu haben.
Quelle:
Jungle World Nr. 46, 17. November 2016.