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Rudolstadt: Pfarrer will nicht mehr im Osten bleiben br> Eintragsdatum: 2008-04-08 — Quelle: AGST, Presse Ein Pfarrer samt Familie flüchtet vor dem alltäglichen rassistischen Terror in Rudolstadt nach Westdeutschland. Die Familie des Pfarrers wurde gedemütigt und geschlagen, weil seine Frau und die Kinder eine dunklere Hautfarbe haben, als andere Thüringer_innen. In Rudolstadt sorgt man sich nun um seinen Ruf. Die Ereignisse machten nun bundesweit Schlagzeilen.
Die Familie Neuschäfer
Im Jahr 2000 zog die Familie Neuschäfer nach Rudolstadt, weil der Theologe Reiner Andreas Neuschäfer eine Stelle als Schulbeauftragter für Südthüringen bekam. Nach mehreren Jahren Alltagsrassismus in einer ostdeutschen Kleinstadt hält es die Familie nicht mehr aus. Die Flucht aus dem Osten bezeichnete Miriam Neuschäfer als lebensnotwendig.
"Mama, was ist ein Nigger?"
Diese Frage brachten die Kinder der Pfarrers-Familie aus der Schule mit nach Hause. Die Kinder wurden in der Schule bespuckt, beschimpft und verprügelt. Die Schulleitung unternahm nichts. Schon im Kindergarten wurden die Kinder verspottet. Ein Kind versuchte sich die Farbe mit einer Bürste von der Haut zu reiben. Auch die Mutter wurde beschimpft. "Geh zurück in den Urwald", hatte man mal beim Einkaufen zu ihr gesagt. Im Park wurde sie mal bespuckt, in manchen Geschäften nicht bedient. Wenn sie mit ihren Kindern auf den Spielplatz kam, verließen diesen die anderen Eltern und Kinder.
Eine Stadt kämpft um ihren Ruf
Nachdem die Ereignisse, die die Familie Neuschäfer zur Flucht aus Ostdeutschland bewegten, in die bundesweiten Schlagzeilen gerieten, sahen sich Verantwortliche der Stadt zur Rechtfertigung genötigt. Vom Relativieren bis zur Unterstellung der Unglaubwürdigkeit fand sich hier jede Positionierung wieder.
Die Angst man könne als zweites Mügeln gehandelt werden schwingt wieder mit. Dort hatte im August 2007 ein rassistischer deutscher Mob eine Gruppe Inder ausgehend von einem Altstadtfest durch die Stadt gejagt.
Wer hat Schuld?
Die Schuld für Alltagsrassismus allein bei der extremen Rechten zu suchen ist falsch. Nicht allein die Neonazis sind Rassist_innen. Zudem ist Rudolstadt kein Musterbeispiel für eine starke rechte Szene. Der NPD-Kreisverband Saalfeld-Rudolstadt gehört zu den inaktivsten und auch über eine aktive Kameradschaft in Rudolstadt ist nichts bekannt. Der Umkehrschluss, es gebe in Rudolstadt keine Nazis ist jedoch ebenfalls zurückzuweisen. Für den Alltagsrassismus sind sie jedoch nicht allein verantwortlich zu machen. Schließlich tragen nicht die Neonazis Rassismus in die Gesellschaft, sondern das Vorhandensein rassistischer Tendenzen begünstigt erst das Erstarken der extremen Rechten.
Das Problem heißt Rassismus
Rassismus in Deutschland ist vielschichtig. Verantwortliche sind hier neben Neonazis, die parlamentarische Politik und die deutsche Gesellschaft. Oft werden fälschlicherweise Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf Neonazis und rechte Schläger reduziert.
Gewalttätige Auseinandersetzungen mit rassistischem Hintergrund haben ihre Wurzeln jedoch in der Basis der Gesellschaft, in der Differenzierung und Distanzierung von denen, die als "anders" abgewertet werden.
Eine ausführlichere Ausarbeitung zu Alltagsrassismus und seinen Ursachen findet ihr in unserer Broschüre "... den Wald vor lauter Bäumen nicht?!" ab Seite 6 im Artikel "step by step" oder "background first" und ab Seite 11 im Unterartikel "Rassismus - vom Neonazi verfolgt, von der Gesellschaft ausgegrenzt, vom deutschen Staat abgeschoben".
Nachfolgend dokumentieren wir noch einige Presseartikel aus bundesweiter und regionaler Presse. Der rassistisch diskriminierten Familie wünschen wir alles Gute und viel Kraft beim Verarbeiten des rassistischen Terrors!
Presse:
01.04.08 - Kölner Stadtanzeiger
Irgendwann ging es nicht mehr
MARKUS DECKER
Rudolstadt / Erkelenz - Die zuständige Oberkirchenrätin versucht gar nicht erst, die Sache schön zu reden. "Ich finde das gelinde gesagt katastrophal", sagt Marita Krüger. Dann setzt die Protestantin aus dem thüringischen Eisenach hinzu: "Es ist im Osten Deutschlands manchmal nicht leicht, wenn man anderer Hautfarbe ist." Fremdenfeindlichkeit existiere auch in Kirchengemeinden - in Ost und West.
Der Pfarrer Reiner Andreas Neuschäfer und seine Familie sind augenscheinlich Opfer dieser Fremdenfeindlichkeit geworden. Im Jahr 2000 zog das Ehepaar Neuschäfer aus dem Rheinland in die thüringische Kleinstadt Rudolstadt, die für sich selbst damit wirbt, "heimliche Geliebte Schillers" zu sein. 2007 - man muss es so sagen - haben das Paar und die inzwischen fünf Kinder die Flucht ergriffen: von Deutschland Ost nach Deutschland West.
In Köln-Kalk geboren
Neuschäfer, in Köln-Kalk geboren und als Pfarrer in Gummersbach und Bergneustadt tätig gewesen, war in Thüringen die Stelle eines Schulbeauftragten angeboten worden. Er griff zu. Der 40-Jährige erteilte Religionsunterricht an staatlichen Gymnasien in Saalfeld und Bad Blankenburg. Und er betreute 300 andere Lehrer, die es ihm in Südthüringen gleich tun. Neuschäfer mochte seinen Job. Die Familie hatte sich in Rudolstadt ein Haus gekauft. Sie kam, um zu bleiben.
Das allerdings erwies sich als schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Denn Miriam Neuschäfer hat eine indische Mutter. Sie selbst und ihre Kinder haben schwarze Haare und eine dunklere Hautfarbe als andere Menschen in Thüringen. "Wir sind nicht mal schwarz-braun, sondern noch relativ hell", sagt sie. "Aber es hat gereicht."
Beleidigungen waren an der Tagesordnung. Ein Kind kam mit der Frage nach Hause: "Mama, was ist ein Nigger?" Es hatte die Frage aus der Schule mitgebracht. Der älteste Sohn Jannik Jonas wurde in der Schule von Gleichaltrigen verprügelt - und musste zwei Wochen zu Hause bleiben. Die Schulleitung, sagt Neuschäfer, unternahm wenig, was das Entsetzen noch vergrößerte. Auch eine Entschuldigung der Eltern der kleinen Schläger blieb aus. Schlimmer für den Jungen waren womöglich seelische Kränkungen. So wurde Jannik Jonas in den sieben Jahren seines Rudolstädter Lebens nicht einmal zu einem Kindergeburtstag eingeladen.
Miriam Neuschäfer sagt, sie sei in der Öffentlichkeit grundsätzlich geduzt worden. In manchen Geschäften habe man sie nicht bedient. ",So was hat man früher zwangssterilisiert!' - das haben mir die Leute ins Gesicht gesagt." Die 32-jährige Mutter erklärt: "Wir sind ein bisschen anders. Wir sehen ein bisschen anders aus. Wir haben auch ein, zwei Kinder mehr als andere Familien." Im Osten sei zudem sei die Abneigung gegen die Kirche stärker verbreitet als im Westen. Während Herr Neuschäfer wenigstens beruflich integriert war, lebten Frau Neuschäfer und die Kinder im Alter von zehn, acht, fünf, drei und einem Jahr in fast vollständiger Isolation. "Irgendwann", sagt sie spürbar verzweifelt, "ging es nicht mehr".
Ärger mit der Kirchenleitung
Im vorigen Herbst bezogen die Neuschäfers einen "Zweitwohnsitz" im rheinischen Erkelenz; dort haben sie familiäre Kontakte. Und Reiner Andreas Neuschäfer pendelt seitdem jede Woche zwischen Rudolstadt und Erkelenz hin und her. Die Distanz beträgt 430 Kilometer. Die Fahrt dauert vier Stunden. Weil das auf Dauer kein Zustand ist, sucht der keineswegs verbitterte Mann jetzt eine Stelle als Schulbeauftragter im Rheinland. Die rheinische Landeskirche weist ihn auf freie Stellen hin. Ganz einfach ist der Wechsel nicht. "Es ist schwierig, vom Osten in den Westen zurückzugehen", sagt Neuschäfer. "Ost-Erfahrung ist eher nicht so das, was gesucht wird." Mauern stehen nicht bloß in Thüringen.
Anfänglich waren andere Lösungen im Gespräch. Die ebenso verständnisvolle wie ratlose Oberkirchenrätin Krüger hatte dem Pfarrer vorgeschlagen, eine Pfarrstelle an der früheren innerdeutschen Grenze anzunehmen - auf thüringischem Gebiet. Die Kinder hätten in Hessen oder Bayern zur Schule gehen können. Doch dann, so Neuschäfer, hätten die Gemeindemitglieder wohl gefragt, ob denn die Pfarrerskinder etwas Besseres sind als ihre eigenen.
Zuletzt hatte der Pfarrerauch noch Ärger mit der Kirchenleitung. Neuschäfer hatte in der Kirchenzeitung "Glaube und Heimat" einen Artikel veröffentlicht, in dem er sich mit der Hetzjagd auf Inder im sächsischen Mügeln befasst. Darin verweist er auf die Erfahrungen seiner Familie und schreibt: "Eine ebenso unheimliche wie unterschwellige Feindlichkeit gegenüber Fremdem, Unheimlichem und Anderem gibt es bei uns in Ostdeutschland sowohl bei "den" Rechten als auch bei "den" Linken. (...) Auch im Raum der Kirche sind nicht automatisch alle gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit!"
Die Kirchenleitung habe ihn aufgefordert, solche Beiträge nicht nochmal zu veröffentlichen, berichtet Neuschäfer. Mancher Leser habe sich auf den Schlips getreten gefühlt. Das dürfte den Entfremdungsprozess zwischen den Neuschäfers und ihrer Umwelt weiter voran getrieben habe. Einen Monat nach Mügeln verließen sie Rudolstadt. Das Fazit des Pfarrers ist kurz: Wenn die Ostdeutschen das fremdenfeindliche Erbe der DDR nicht aufarbeiteten, werde das Problem nicht zu lösen sein.
Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), stellt fest: "Dass Menschen sich - zugespitzt formuliert - im eigenen Land auf die Flucht machen müssen, kennt man eigentlich nur aus nicht-demokratischen Ländern." Es sollte im 21. Jahrhundert selbstverständlich sein, ohne Angst verschieden sein zu können. "Das Traurige ist, dass mit dem Weggang der Familie genau das Gegenteil dessen passiert, was eigentlich nötig ist - eine heterogenere Zusammensetzung der ostdeutschen Bevölkerung. Eine aktive Bekämpfung von Diskriminierung ist nicht zuletzt ein Beitrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse." Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), sieht "die Zivil gesellschaft gefordert". Es gehe darum, eine Atmosphäre der Gastfreundschaft über alle kulturellen Differenzen hinweg zu schaffen. "Wer selbst leise Diskriminierung in seiner Nähe wahrnimmt, sollte das zur Sprache bringen", mahnt Tiefensee. Rudolstadts parteiloser Bürgermeister Jörg Reichl sagt: "Mir sind außergewöhnliche Vorkommnisse nicht bekannt. Es wird manches übertrieben. Hier herrscht keine Ausländerfeindlichkeit."
Reiner Andreas Neuschäfer sieht das anders. "Einzelne haben uns Mut gemacht", erwidert er. "Aber wir sind nicht prädestiniert dafür zu kämpfen. Wir können unsere Familie nicht zum Opfer machen." In Erkelenz gebe es keine Anfeindungen. "Den Kindern geht es wunderbar. Das ist wie ein neues Leben."
Quelle: http://www.ksta.de/html/artikel/1206878690041.shtml
04.04.08 - Spiegel Online
RASSISMUS
Der kleine Jannik wollte sich die Haut mit der Bürste weiß schrubben
Aus Rudolstadt und Erkelenz berichtet Philipp Wittrock
Beschimpft, bespuckt, verprügelt - von ganz normalen Bürgern. Weil sie den alltäglichen Rassismus nicht mehr erträgt, flüchtet eine Pfarrersfamilie aus dem Osten zurück ins Rheinland. Im thüringischen Rudolstadt versteht man die Welt nicht mehr - und sorgt sich um seinen Ruf.
Erkelenz/Rudolstadt - Es ist eine Chronologie des täglichen Terrors: Irgendwann im vergangenen Jahr hat Miriam Neuschäfer angefangen, alles aufzuschreiben. "Um es zu verarbeiten und für die Kinder", sagt sie, "damit die später verstehen, was alles passiert ist." Die zierliche junge Frau sitzt am rustikalen Küchentisch und blättert den gelben Schnellhefter durch. Immer wieder schüttelt sie den Kopf mit den dunklen, kurzen Haaren. Zehn Seiten sind es, voll beschrieben mit schwarzem Stift. In der Schublade liegen noch viel mehr, 50 insgesamt vielleicht, schätzt sie.
Erst in ausformulierten Sätzen, bald nur noch stichpunktartig hat Miriam Neuschäfer notiert, warum ihre Familie nach fast acht Jahren das thüringische Rudolstadt verlassen hat und zurückgekehrt ist in den Westen, in den äußersten Westen der Republik, nach Erkelenz im Rheinland. Sie hat den Rassismus nicht mehr ausgehalten, die ständigen Anfeindungen ganz normaler Bürger, das Gefühl, verhasst zu sein im eigenen Land.
"Es war eine Flucht", sagt Miriam Neuschäfer. "Und sie war lebensnotwendig."
Miriam Neuschäfer hat eine indische Mutter, ihre Haut ist dunkel, wie auch die ihrer fünf Kinder. Die 32-Jährige ist am Niederrhein aufgewachsen, hat Theologie studiert, spricht akzentfrei deutsch. Ihr Mann Reiner Andreas Neuschäfer, 40, ist Pfarrer. Im Jahr 2000 bekam er die Stelle des Schulbeauftragten für Südthüringen angeboten. Der Job war attraktiv, die junge Familie hatte keine Scheu vor dem Osten. Mit damals zwei kleinen Kindern gingen sie nach Rudolstadt, die einstige fürstliche Residenz 50 Kilometer von der Landeshauptstadt Erfurt entfernt, in einem schönen Tal gelegen, dort, wo sich die Saale in einem Bogen von Süden nach Osten schlängelt. Eine überschaubare Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern - hier sollte man schnell Anschluss finden.
Doch die Neuschäfers blieben Fremde in Thüringen.
Von Anfang an sei ein "Kulturunterschied" zu spüren gewesen, sagt Reiner Neuschäfer. Die Rheinländer werden nicht warm mit den Menschen, finden nur wenige Freunde, wenn, dann kommen diese meist auch aus dem Westen. Man bleibt unter sich. Vielleicht, könnte man sagen, haben sie sich den Anfang selbst schwer gemacht, vielleicht haben sie die Thüringer "Nölärsche", wie sich die Menschen hier selbst gern scherzhaft nennen, einfach nur falsch eingeschätzt.
Das wird schon, denken die Neu-Rudolstädter.
Nichts wird. Die Neuschäfers empfinden bald mehr als kühle Distanz. "Wir könnten hier Stunden sitzen und noch ewig weiterreden", sagt Miriam Neuschäfer, als sie ihre Aufzeichnungen überfliegt, die von Hass und Feindseligkeit erzählen. Stunden, und ihnen würden immer neue Erlebnisse und Begebenheiten einfallen, die früher oder später zu dem Entschluss führen mussten: Wir gehen.
"Deine Haut ist nicht richtig"
Zum ersten Mal schrillen die Alarmglocken im Jahr 2002 bei einem Gespräch mit der Kindergärtnerin des ältesten Sohnes Jannik, der heute zehn Jahre alt ist. Plötzlich ist von Integrationsproblemen die Rede. "Deine Haut ist nicht richtig", sollen die anderen Kinder zu ihm gesagt haben - sie meiden ihn. Irgendwann steht Jannik zu Hause am Waschbecken und schrubbt seinen Arm mit der Wurzelbürste. Er will die dunkle Farbe abreiben.
Später in der Grundschule geht die Hänselei weiter, sagen die Eltern. "Mama, was ist ein Nigger?", fragt der Junge daheim. Die Mitschüler hätten gespottet: "Du bist so braun, weil du dich mit Scheiße eingerieben hast." Eines Tages sollen neun Schulkameraden Jannik auf dem Schulhof verprügelt haben, so schlimm, dass Reiner Neuschäfer die Polizei einschaltet. Die Schulleitung ermahnt die kleinen Schläger.
Während auch die zweitälteste Tochter Fenja, heute acht Jahre alt, Mobbing-Geschichten mit nach Hause bringt, macht Mutter Miriam Neuschäfer ihre ganz eigenen Erfahrungen. "Was hier alles einkaufen darf", habe ein älterer Herr ihr und den Kindern im Supermarkt im Vorbeigehen an den Kopf geschleudert. "Geh zurück in den Urwald!" So ist ihr das Gebrüll eines anderen auf dem Parkplatz in Erinnerung, als sie die Autotür nicht schnell genug schließt, damit der Pöbelnde seinen Wagen in die Nachbarbucht stellen kann.
Es dauert nicht lange, bis Miriam Neuschäfer allein die Blicke anderer Menschen wehtun. "Ich habe nur noch auf den Boden geguckt und die Steine gezählt." Bald geht sie allein gar nicht mehr aus dem Haus.
Aber auch wenn der große und kräftige Pfarrer oder die wenigen Freunde dabei sind, bekommen Mutter und Kinder offene Abneigung zu spüren. Wenn die Familie auf dem vollen Kinderspielplatz erscheint, leert sich dieser schon mal schlagartig. "Bei strahlendem Sonnenschein", sagt die Mutter. Beim gemeinsamen Spaziergang mit einer Bekannten im Park habe ein Jugendlicher sie angespuckt.
Die Stadtspitze wundert und windet sich
"Angespuckt!? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen." Georg Eger, Erster Beigeordneter und Vertreter des Bürgermeisters, sitzt in seinem Büro im ersten Stock des Rudolstädter Rathauses und schüttelt heftig mit dem Kopf. Dann hebt er den Zeigefinger: "Ich schließe das sogar aus." Stadtsprecher Michael Wagner versucht die ultimative Aussage noch schnell einzufangen: Natürlich könne man nicht für jeden Bürger seine Hand ins Feuer legen. "Aber anspuckenâ?"
Es wird viel mit dem Kopf geschüttelt in diesen Tagen im Rudolstädter Rathaus. Draußen vor dem Renaissancebau hat der Dauerregen die Menschen aus der schmucken Fußgängerzone gespült, in die sich Miriam Neuschäfer zuletzt nicht mehr traute. "Wir sind überrollt worden", sagt Eger. Überrollt von den Berichten über die Flucht der Neuschäfers vor der Ausländerfeindlichkeit einiger Rudolstädter, von der man hier lieber nichts wissen will. Krisenmanagement sei nun gefragt, sagt Sprecher Wagner, er feilt gerade an einer offiziellen Stellungnahme der Stadt.
Jeder Satz zählt. Das Beispiel des sächsischen Dorfes Mügeln hat das gezeigt. Dort hatte im August 2007 ein alkoholisierter Mob nach einer Schlägerei beim Altstadtfest eine Gruppe Inder in einer Pizzeria bedroht. Die Menge johlte ausländerfeindliche Parolen, der Bürgermeister redete die Probleme klein, schob die Gewalt auf auswärtige Festbesucher.
Angst vor dem Mügeln-Effekt
Auch wenn der Fall ein völlig anderer ist - wie Mügeln fürchtet Rudolstadt um seinen Ruf. Denn den hat man in den vergangenen Jahren erst mühsam aufpoliert. 1992 waren 2000 Neonazis zum Gedenken an Rudolf Heß aufmarschiert, die Stadt bald als Rechtsradikalen-Hochburg verschrien. Heute wird stolz auf das größte Weltmusik-Festival Deutschlands verwiesen, das jedes Jahr Zehntausende aus aller Herren Länder ins Saaletal zieht. Man hat Angst vor dem Rückfall. Hunderte Hass-E-Mails hat die Stadtspitze schon erhalten. Tenor: "Nie wieder Rudolstadt."
Es gilt, den Spagat zu schaffen: Sich gegen das Pauschalurteil zu verwahren, Rudolstadt sei ein ausländerfeindliches Nest - und zugleich die Berichte der Neuschäfers öffentlich nicht als Märchen abtun. Letzteres fällt hin und wieder schwer: Der Erste Beigeordnete spricht von "Schulrangeleien", von "der Nadel im Heuhafen", die man natürlich auch auf Teufel komm raus suchen könne. In einem persönlichen Gespräch mit Reiner Neuschäfer will der Bürgermeister die Sache möglichst bald aus der Welt räumen. Bis dahin hört er sich um, nach dem, von dem er nie zuvor etwas gehört haben will: bei der Polizei, die zwei Anzeigen der Neuschäfers bestätigt, bei der Schule, die sich gegen den Vorwurf wehrt, nicht genug unternommen zu haben.
Sie seien nicht verbittert, sagen die Neuschäfers, es geht ihnen nicht darum, den Osten oder Rudolstadt zu brandmarken. Sie haben die Öffentlichkeit nicht gesucht. Erst über Umwege war die Geschichte von der Flucht aus Thüringen an die Presse gelangt, eher durch Zufall. Schließlich sind Mutter und Kinder schon im Oktober vergangenen Jahres nach Erkelenz gezogen. Was als eine Art Erholungsurlaub geplant war, ist nun zum "Befreiungsschlag" geworden - Rückkehr ausgeschlossen.
Zumindest für Miriam, Jannik, Fenja, Ronja, Jarrit und Jannis Neuschäfer, die in der neuen alten Heimat aufblühen. Der Familienvater sucht noch nach einer Anstellung im Rheinland. Einstweilen pendelt er die 430 Kilometer mit dem Auto zwischen Erkelenz und Rudolstadt, wo er unter der Woche auf der Matratze in der ansonsten bereits ausgeräumten Wohnung schläft.
Zurzeit hat er Urlaub, am kommenden Dienstag wird wieder nach Thüringen fahren, zum ersten Mal, seit die Rassismus-Vorwürfe bekannt sind. Er mache sich "mit gemischten Gefühlen" auf den Weg, sagt der Pfarrer. Er weiß: "Das könnte ein Spießrutenlauf werden."
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,545313,00.html
06.04.08 - Kölner Stadtanzeiger
Eine Stadt und ihr Ruf
MARKUS DECKER
Rudolstadt -Fridolin Zaugg tritt unruhig von einem Bein auf das andere. Er denkt lange nach, bevor er spricht. Meist urteilt Zaugg ausgleichend. Er kann aber auch Sätze sagen wie: "Die dummen Säcke nehmen sich mehr Platz, als ihnen zusteht." Gemeint sind Rassisten.
Der Schweizer ist 1992 nach Rudolstadt in Thüringen gekommen. Er ist "kultureller Jugendpfleger" und wohnt in der Weinbergstraße 6 in einer schönen großen Villa. Dort haben auch Pfarrer Reiner Andreas Neuschäfer, seine indischstämmige Frau Miriam und ihre fünf Kinder gewohnt - bis Frau Neuschäfer die fremdenfeindlichen Anfeindungen, denen sie sich ausgesetzt sah, nicht mehr ausgehalten hat und die Familie im September 2007 nach sieben Jahren ins rheinische Erkelenz "floh". Sie fühlte sich beleidigt und bedrängt, wie der "Kölner Stadt-Anzeiger" berichtete.
Zweimal haben die Neuschäfers wegen einschlägiger Vorfälle Anzeige erstattet. Herr Neuschäfer hat mindestens einen Leserbrief und einen Artikel in der Kirchenzeitung "Glaube und Heimat" veröffentlicht, in dem er "Intoleranz" beklagt und seinen evangelischen Arbeitgeber darin einbezieht. Im 25 000 Einwohner zählenden Rudolstadt mit seinen 400 Ausländern herrschen nun Unverständnis und Zorn. Heike Enzian von der "Ostthüringer Zeitung" berichtet: "Die Leute sagen: Das hat Rudolstadt nicht verdient." Was aber hat Rudolstadt verdient?
Bürgermeister Jörg Reichl sitzt in seinem großen Dienstzimmer und ist unsicher. Der Mann vom Bündnis "Bürger für Rudolstadt", früher Berufssoldat bei der Nationalen Volksarmee, ist seit eineinhalb Jahren im Amt. In einer ersten Reaktion hatte Reichl erklärt: "Hier herrscht keine Ausländerfeindlichkeit." Anders lautende Behauptungen seien "übertrieben". Dieses pauschale Dementi hat Reichl Kritik eingetragen. Deshalb muss er geraderücken.
Zunächst weist der Bürgermeister darauf hin, dass er die Neuschäfers zu einem Gespräch eingeladen habe. Frau Neuschäfer kenne er nicht. Mit Herrn Neuschäfer habe er maximal zehn Sätze gewechselt. Dabei war Reichls Sohn im Frühjahr 2007 in eine Prügelei mit Neuschäfers ältestem Sohn Jannik verwickelt. Untersuchungen der Polizei hätten ergeben, dass es sich um eine ganz "normale Schulhofrangelei" gehandelt habe, betont Reichl. Jannik habe einen Mitschüler provoziert. Dann hätten die anderen erwidert: "Lass unseren Freund in Ruhe!" Schulleiterin Angelika Swirszcuk glaubt: "Neunjährige haben noch keine rassistischen Gedanken im Kopf."
Später räumt Reichl ein: "Die latente Ausländerfeindlichkeit kann man nicht fassen. Die kann man auch nicht ausschließen." Selbst in Rudolstadt nicht. Allerdings gebe es keine zählbaren Vorfälle. Und damit das so bleibt, investiere man seit geraumer Zeit - rein vorsorglich - in die Jugend- und Kulturarbeit. Es gibt das Thüringische Landestheater, dem die Stadt jährlich 1,5 Millionen Euro überweist. Vor allem gibt es das alljährliche internationale Tanz- und Folkfestival. "Die Welt darf gerne bei uns zu Gast sein", sagt der Bürgermeister. Sein Pressereferent Frank Michael Wagner fügt hinzu: "Wir müssen uns nicht verstecken. Wir können die Wahrheit sagen." Zur Wahrheit gehört, dass in Rudolstadt 1992 ein großer Nazi-Aufmarsch stattfand, dass sich die rechtsextreme Szene Ende der 90er Jahre im benachbarten Saalfeld tummelte und weiter präsent ist.
Derartige Tendenzen will auch Peter Taeger nicht leugnen. In der Sächsischen Schweiz könne man beobachten, "wie schnell der Rechtsstaat in die Defensive gerät", mahnt der evangelische Superintendent. Seine Landeskirche starte in diesen Tagen eine Kampagne mit dem Titel: "Nächstenliebe verlangt Klarheit - Evangelische Kirche gegen Rechtsextremismus". Taeger, anders als Reichl souverän, ist keineswegs blind. Gleichwohl ist er verärgert. Neuschäfer habe "das Gespräch nicht gesucht. Als Pfarrer kämpft man und hinterlässt nicht pauschale Schuldzuweisungen". Die bekannten Zwischenfälle mit Sohn Jannik - der eine in der Schule, der andere in einer evangelischen Kindereinrichtung - hätten mit Rassismus nichts zu tun gehabt. Freilich lasse sich Rassismus jeweils "trefflich projizieren". Zudem widersprechen Taeger und die Thüringische Landeskirche der These, Fremdenfeindlichkeit sei im Osten weiter verbreitet als im Westen.
Die 2000 aus Westdeutschland nach Rudolstadt zugewanderte Familie Neuschäfer sieht das so. Am Dienstag wird es ein Treffen zwischen beiden Seiten geben. Neuschäfer fühlt sich unverstanden, sein Dienstherr fühlt sich schuldlos angeklagt und ließ in den Rudolstädter Gemeinden gestern ein Wort von Landesbischof Christoph Kähler verlesen. Gesucht wird etwas Christliches: Versöhnung. Die Rheinische Landeskirche übrigens, in die Neuschäfer gerne zurückkehren würde, hat keine offenen Stellen.
Lokalredakteurin Heike Enzian ist traurig. "Ich finde es ziemlich schade, dass es so gekommen ist", sagt sie. Enzian schildert Herrn Neuschäfer als agil, Frau Neuschäfer als ruhig. "Er stand ständig auf der Matte. Er zählte zu den eifrigsten Leserbriefschreibern. Ich habe ihn immer sehr geschätzt." Auch habe sich Neuschäfer über Anfeindungen beklagt. Manches habe sich hinterher relativiert. "Anderes stimmt sicherlich." Die Journalistin bestreitet, dass Rudolstadt eine No-go-Area sei - eine Stadt, die Fremde fürchten müssen. Sie kann sich jedoch vorstellen, dass die Neuschäfers Rudolstadt so erlebt haben wie Ostdeutsche zuweilen Westdeutschland erleben - nicht offen feindlich, doch vorurteilsbeladen und ignorant. Der Frau geht es um Verständnis in beide Richtungen.
Dem Nachbarn Fridolin Zaugg ebenfalls. Der Mann mit dem Ohrring und dem schwarzen Existenzialisten-Look findet, man könne sich in Rudolstadt gut integrieren. Es sei eine kulturvolle Stadt. Dennoch habe Frau Neuschäfer ihm von Zwischenfällen berichtet. Mindestens fünf seien ihm in Erinnerung. "Ich habe gespürt, dass sie das verletzt hat. Ich habe gemerkt, dass es ihr scheiße ging. Das hat mir gereicht." Dann geht Zaugg in den Hof und zeigt auf einen kleinen Baum, den sie gemeinsam gepflanzt haben. Die Zauggs haben die Neuschäfers gebeten zu bleiben. Erfolglos.
Was hat Rudolstadt verdient?
Die Wahrheit ist schwer zu finden. Rudolstadt ist ein schöner Ort, in dem es sich leben lässt - mit bloß elf Prozent Arbeitslosigkeit und vielen Investoren. Rudolstadt ist aber auch ein Ort, in dem Menschen wie Miriam Neuschäfer attackiert werden, ohne dass andere es merken - oder merken wollen. In jedem Fall ist Rudolstadt ein Ort, in dem Alarmsignale übersehen worden sind - bis plötzlich der Ruf der Stadt auf dem Spiel stand. Zurückholen will der Bürgermeister die Neuschäfers nicht. "Wo man seinen Lebensmittelpunkt hat", sagt er, "das muss man selbst entscheiden."
Quelle: http://www.ksta.de/html/artikel/1207478981682.shtml
08.04.08 - Freies Wort
Fremdenfeindlichkeit
"Ich weiß, warum Du so braune Haut hast"
Ein Pfarrer und seine Familie verlassen aus Angst Rudolstadt. Doch Amtskirche und Kollegen haben Zweifel an dieser Version
Von Eike Kellermann
Rudolstadt - Im Studier- und Musikzimmer von Pfarrer Johannes Martin Weiss hängt eine Posaune. "Auch noch die Alte", brummt er, die sei ganz ungeeignet als Foto-Hintergrund. Der Pfarrer sitzt lieber am Tisch, hinter ihm der Eichenschrank mit Wälzern über das Christentum, links ein Gitarrenkoffer, rechts neben dem Fenster ein Plattenspieler und Platten von Gerhard Schöne. Doch nach Musik steht Weiss derzeit nicht der Sinn. Denn Posaunenstöße hört er jeden Tag aus den Medien. Rudolstadt, wo der vollbärtige Mann Pfarrer an der Lutherkirche ist, steht in dem bösen Verdacht, fremdenfeindlich zu sein.
"Es gibt zwei Sichtweisen, mindestens", sagt Weiss. Die Sichtweise, die er nicht teilt, ist die seines Kollegen Reiner Andreas Neuschäfer. Der 40-jährige Schulbeauftragte der Evangelischen Landeskirche für die Region Südthüringen, seine Frau und seine fünf Kinder wohnen seit vorigem Oktober nicht mehr in der Stadt mit der markanten Heidecksburg. Doch erst jetzt sind die Gründe bekannt geworden. "Wir haben den Druck nicht mehr ausgehalten", sagt Neuschäfer. Die Familie habe sich gefragt, ob erst Blut fließen müsse.
Neuschäfers 32-jährige Frau Miriam hat eine indische Mutter. Das sieht man ihr und den fünf Kindern wegen der dunklen Haut und den tiefschwarzen Haaren an. Bekannte bezeichnen Miriam Neuschäfer als eine kluge Frau. Theologie hat sie studiert, bevor sie sich der Kinderbetreuung widmete. Sie ist Deutsche wie Jürgen Klinsmann, nur so blond ist sie eben nicht. Damit fällt man in Thüringen auf, wo es kaum Ausländer gibt und Deutsche mit dem viel erörterten Migrationshintergrund. Und das soll der Grund gewesen sein, dass die Neuschäfers nicht willkommen waren in Rudolstadt?
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Warnung vor Verharmlosung
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Seit dieser Verdacht in der Welt ist, ist nichts mehr wie vorher. Die bündnisgrüne Vize-Präsidentin des Bundestags, Katrin Göring-Eckardt, warnte von Berlin aus vor einer Verharmlosung der Vorfälle. Landesbischof Christoph Kähler sah sich zu einer Kanzelabkündigung genötigt. Er verurteilte Fremdenfeindlichkeit, warnte aber auch - mit Hinweis auf den Fall des ertrunkenen Jungen im sächsischen Sebnitz - vor pauschalen Verdächtigungen und "falschem Zeugnis". Bürgermeister Jörg Reichl (parteilos) kommt kaum noch zum Arbeiten, so viele Interviews soll er geben. Fremdenfeindlichkeit sei sicherlich in den Köpfen mancher seiner Mitbürger, gibt er nach ersten abwiegelnden Äußerungen zu. "Aber das ist nicht mehr oder weniger als anderswo."
Doch Familie Neuschäfer, seit dem Jahr 2000 in Thüringen zu Hause, war es zu viel. Ihre Eigentumswohnung in dem gediegenen Viertel am Fuß der Heidecksburg steht nun zum Verkauf. Am Briefkasten klebt noch der Name und handschriftlich der ein wenig oberlehrerhafte Hinweis: "Bitte keine Werbung einwerfen. Wir verzichten gerne. Danke."
Folgt man der Sichtweise von Reiner Andreas Neuschäfer, dann war es eine Flucht. Eine Flucht vor einer "Atmosphäre des Unverständnisses". Nicht Rechtsextreme seien allein das Problem, sondern eine weit verbreitet Angst vor Andersartigkeit, die Sehnsucht nach überschaubaren Verhältnissen, die "Neo-Ostalgie", wie es Neuschäfer nennt.
Ihm zufolge wurde seine Frau beispielsweise mitten in der Stadt von einem jungem Mann angespuckt. Seine Kinder seien in der Schule von anderen Kindern als "Ausländerschweine", "Asiate" oder "Chinese" bezeichnet worden. Sein großer Sohn habe deshalb versucht, die braune Haut mit einer Wurzelbürste abzuschrubben. Die Erzieherin im Kindergarten, so Neuschäfer, fand den Vorfall damals eher amüsant.
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Hilflosigkeit in der Schule
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Der inzwischen achtjährigen Tochter sei von einem Mitschüler gesagt worden: "Ich weiß, warum Du braune Haut hast. - Du schmierst Dich zu Hause mit Scheiße ein." Die Lehrerin habe nur hilflos gefragt, was sie denn machen solle. Andere empfahlen, die Neuschäfers - auf dem Familienfoto so deutsch wie aus dem Bilderbuch - sollten sich an den Ausländerbeauftragten (!) wenden.
Und dann gab es noch jene Prügelei vor einem Jahr. Jannik, der große Sohn war beteiligt, der Junge des Bürgermeisters und noch ein paar Gleichaltrige. Die Polizei bestätigte laut Neuschäfer, der Anzeige erstattet hatte, den fremdenfeindlichen Hintergrund. Doch Bürgermeister Reichl widerspricht mit Hinweis auf die Akten der Staatsanwaltschaft. Reichl zufolge waren neun Jungs an einer "Schulhofrangelei, wie sie jeden Tag vorkommt", beteiligt. Jannik habe bei seiner Befragung durch die Polizei verneint, dass seine Hautfarbe eine Rolle spielte.
Auch Pfarrer Weiss, lange Zeit Beauftragter seiner Kirche für Asylbewerber, hat eine andere Sicht als Neuschäfer. Unstrittig seien "alltägliche Ressentiments". Aber Neuschäfer heuchele, wenn er behaupte, dass es sie am neuen Wohnort der Familie in Nordrhein-Westfalen nicht gebe. Die Familie selbst habe ihre Integration in Rudolstadt "nicht sehr befördert". Manche Konflikte seien von ihr auf Fremdenfeindlichkeit geschoben worden, wo es doch einen persönlichen Hintergrund gab.
Gegenüber einigen der 300 Religionslehrer, die er beriet und betreute, habe Neuschäfer selbst die von ihm geforderte Sensibilität vermissen lassen. In Kählers Bischofswort wird dem Pfarrer vorgehalten, seine Vorwürfe nicht zuerst mit der Kirchenleitung besprochen zu haben. Mehrere Gesprächsangebote und einen Stellenwechsel habe er nicht angenommen. Neuschäfers Replik: "Ich habe das Gefühl, nun vom Opfer zum Täter gemacht zu werden."
Trotzdem gibt es mehr als seine Sicht. In einem Gottesdienst, erzählt Weiss, habe Neuschäfers Sohn Jannik ("ein ausgesprochen aggressives Kind") ein Gesangbuch auseinander genommen. Trotz Aufforderung eines Kirchenältesten sei der Vater nicht eingeschritten. Beleg einer antiautoritären Erziehung, die für Disziplin-gewöhnte Ostdeutsche ein Kulturschock ist? Neuschäfer sagt, Rudolstadts Superintendent Peter Taeger habe ihn einen "arroganten Wessi" genannt. "Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen", entgegnet Pfarrer Weiss.
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Widerstand gegen Rechte
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Zur anderen Sicht gehört der Blick auf das Fotogeschäft, in dem Frau Neuschäfer angeblich nicht bedient wurde. Es wirbt im Internet mit Hochzeitsfotos von einem Paar, bei dem die Braut erkennbar ein asiatisches Aussehen hat. Weiss ist zudem der Hinweis wichtig auf den erfolgreichen Widerstand der Kirchgemeinde gegen eine Demonstration von Rechtsextremen im Ortsteil Volkstedt. "Da ist es kontraproduktiv, was er jetzt so treuherzig zur Sprache bringt", sagt der Pfarrer über seinen Kollegen. In Rudolstadt sei auch das der Normalfall: Die Hilfe für Asylbewerber mit Geld, Wohnungen und Arbeitsplätzen.
Ein Indikator für die Weltoffenheit der Stadt und ihrer 25 000 Einwohner ist schließlich das Tanz- und Folkfest. Zehntausende kommen zu diesem Hochamt der Worldmusic mit Musikern aus aller Herren Länder. Am Festival-Wochenende stehe im Polizeibericht weniger als sonst, sagt Pfarrer Weiss. Das ist seine Botschaft über Rudolstadt. Eine Botschaft, die hinauszuposaunen ihm weit besser gefiele.
Quelle: http://www.freies-wort.de/nachrichten/thueringen/seite3thueringen...
09.04.08 - Thüringer Allgemeine
"Ich habe nichts Falsches gesagt"
Gestern gab es in Eisenach ein Gespräch zwischen der Leitung der Thüringer Landeskirche und dem Rudolstädter Pfarrer Neuschäfer, der über Fremdenfeinlichkeit gegenüber seiner Familie klagt. Beide Seiten schienen erstmal über das Ende des Schweigens erleichtert.
ERFURT/EISENACH. Man sei sehr bemüht gewesen, sagte Pfarrer Reiner Andreas Neuschäfer (Foto) nach dem eineinhalbstündigen Gespräch. Es gab viel innere Anspannung. Wohl auf beiden Seiten.
Seit gestern ist Pfarrer Neuschäfer wieder in Thüringen, auch zurück in Rudolstadt (TA berichtete). Dass er dort nicht mehr lange sein wird, scheint jedoch klar. Nicht nur, weil seine Stelle als Schulpfarrer ohnehin Ende Juli ausläuft.
So richtig gern ist er in Rudolstadt jedenfalls nicht mehr. Auch, weil er sich dort keineswegs nur Freunde gemacht hat, als er ein allgemein fremdenfeindliches Klima beklagte. Das geprägt sei von kleinen Sticheleien auch Respektlosigkeit und Kränkungen, bis hin zu offenen Beleidigungen und Angriffen. Was andere schlucken, wollte er nicht länger hinnehmen.
Dabei: "Ich habe gar nichts Falsches gesagt", meinte er gestern. Entschlossen hat er dies wohl auch in Eisenach vorgebracht. Die Landeskirche teilte danach schriftlich mit, man wolle die Vorfälle, die Neuschäfer, seine indischstämmige Frau und die fünf Kinder belasteten, vollständig aufklären.
Der Weg mag seltsam anmuten: Neuschäfers sollen jetzt eine Liste all der fremdenfeindlichen Vorfälle zusammenstellen, mit denen sie konfrontiert waren. Und zwar mit konkreten Daten, Namen und Orten. "Man will wohl überprüfen, ob alles stimmt, was ich sage", argwöhnt der Pfarrer. Vielleicht hat er nicht ganz Unrecht.
Schließlich soll er auch noch unbedingt Informationen dazu anfügen, "was Neuschäfer selbst unternommen hat, wer um Hilfe gebeten wurde und wie dies ausgegangen ist". So hieß es gestern in einer Mitteilung der Landeskirche. Neuschäfers Abgabetermin für die Darstellung: 15. April.
Landesbischof Christoph Kähler hatte gestern gemeinsam mit anderen Bischöfen in Erfurt das alljährliche Gespräch führender Kirchenleute mit Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU). Dort wurde auch das Problem der Neuschäfers angesprochen. Es gebe Redebedarf, räumte Kähler danach ein - und dass man die Vorwürfe dieser Pfarrersfamilie sehr ernst nähme. "Fremdenfeindlichkeit ist kein Kavaliersdelikt", so der evangelische Bischof energisch, und er erinnerte daran, dass in der ostthüringischen Stadt Kirche und Kommune in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in der Vergangenheit "erhebliche Erfolge erzielt hätten. Allerdings kenne er auch noch einen anderen Pfarrer in Thüringen, der ebenfalls mit einer indischen Frau verheiratet sei. Und der erlebe "keine grundlegenden fremdenfeindlichen Auseinandersetzungen".
Wie es mit den Neuschäfers nun weitergehen wird, ist noch völlig offen. Die Kirchenleitung hat den Schulpfarrer gestern aufgefordert, bis zum 23. April Vorstellungen darzulegen. Er selbst beteuert, er sei Pfarrer in Thüringen, Beamter der Landeskirche, habe Familie und müsse irgendwo arbeiten. Ob sich seine Familie vorstellen könnte, aus dem Rheinland zurückzukehren nach Thüringen? "Ich denke ja, wir müssen noch weiter darüber reden, aber keinesfalls nach Rudolstadt", sagt Neuschäfer. Das klingt nicht so, als habe er längst die Fühler nach neuen Perspektiven ausgestreckt.
Auf drei offene Pfarrerstellen hat er sich beworben. Übrigens: auch auf die des Südthüringer Schulpfarrers. Die Verfahren dazu laufen. Amtsitz für den Schulpfarrer wäre dann übrigens in Meiningen.
09.04.2008 Von Angelika REISER-FISCHER
Quelle: http://www.thueringer-allgemeine.de/ta/ta.thueringen.voll... |


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