„step by step“ oder „background first“
„Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ - diese Redensart trifft zu auf das, was in Thüringen, Deutschland, und auch vielen anderen Ländern Normalität ist. Festgelegte gesellschaftliche Normen und Werte, stereotype Sozialisationen und der Einklang von Politik und Medien lassen ein festes Bild „der Probleme unserer Zeit“ entstehen.
Meist sind das Probleme, von denen viele betroffen sind, Probleme, die in den nationalen Kontext gesetzt werden oder auch Probleme, die an einzelnen Stellen so extrem auftreten, dass sie für ein paar Wochen die Bühnenbilder von Fernsehen, Radio und Zeitung bestimmen. Andere Missstände bleiben in der gesellschaftlichen Perspektive außen vor oder schaffen es höchstens in die Tagespresse, die Stammtischrunde oder das Gespräch an der Ladenkasse, sollte der genannte Extremfall eingetreten sein.
Im folgenden Abschnitt wollen wir uns mit den Problemen Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus beschäftigen. Wir sehen sie als tägliche, gefährliche Erscheinungen - kaum wahrgenommen in ihrem Umfang und eng miteinander verknüpft.
Rassismus in der eigenen Sprache oder in unbewusst abgrenzendem Verhalten wird nicht als Rassismus erkannt - denn es scheint „normal“. Und wie sehr der Mensch mit der „Nation“, in der er lebt, gleichgesetzt wird, fällt spätestens beim Blick in die Tageszeitung auf, in der jedes zweite „Deutschland“ durch ein „Wir“ ersetzt zu sein scheint.
Das Thema dieses Heftes hätte somit genauso gut lauten können: „den Nationalismus vor lauter Deutschlandfahnen nicht sehen“.
Und genau darum geht es, darum, das Übel trotz dessen Normalität zu erkennen und zu analysieren. Die Kritik an vielen in der Gesellschaft als „normal“ angesehenen Erscheinungen, wie beispielsweise an diesem Patriotismus, ist wichtig, um eben der „Normalität“ den scheinbar entschuldigenden Charakter zu nehmen.
Wir wollen versuchen, Ansatzpunkte zum Hinterfragen und zum Überdenken des eigenen Handelns sichtbar zu machen. Oft sind die benannten Probleme dem Einzelnen nicht bewusst, doch die Gefahr liegt gerade in dieser Latenz, dem andauernden Vorkommen in breiten Teilen der Gesellschaft. Als Teil dieser Gesellschaft sind viele Menschen vor rassistischen, antisemitischen oder auch nationalistischen Ressentiments nicht gefeit, erkennen die Symptome nicht oder wollen sie auch nur schlicht und einfach nicht wahrnehmen. Neben den offensichtlichen, unbestreitbaren Anzeichen – hier ein geschändeter jüdischer Friedhof, da ein_e von Neonazis verprügelte_r Migrant_in - gibt es jedoch unzählige Beispiele für bei weitem subtilere Arten der Anfeindung. Diese Beispiele widerspiegeln eine gefährliche Toleranz der „demokratischen“ Mitte der Gesellschaft gegenüber rechtem Gedankengut wieder.
Das Feld reicht hier vom deutschen Wortschatz über griffige rechte Parolen und Vergleiche, instrumentalisiert von Politiker_innen nahezu aller im Bundestag vertretenen Parteien, bis hin zu einer in weiten Teilen der Bevölkerung verbreiteten „das Boot ist voll“ –Mentalität, gepaart mit einer aktiven und akzeptierten deutschen Abschiebepolitik. Die genannten Muster gehen inhaltlich Hand in Hand mit vielen neonazistischen Denkweisen; nur sind sie dabei erschreckenderweise bei weitem effektiver. Gesellschaft und bundesdeutsche Politik erreichen so die Ziele, die bei ungenauem Hinsehen dem rechten Rand vorbehalten zu sein scheinen: die Verdrängung der formell als „Ausländer“ abgestempelten Menschen aus Deutschland, ihre Ausgrenzung und Isolation.
Antisemitismus- „gibt es denn so was heute überhaupt noch??“
„Nein!“, würden viele jetzt vielleicht auf diese Frage antworten und eventuell ohne größere Überlegungen davon ausgehen, dass es ja in Deutschland keinen oder nur verschwindend wenig Antisemitismus geben könne- weil es hier ja kaum (noch) Juden gäbe.
Diese -zugegebenerweise fiktive- Aussage ist beispielhaft für einen weit verbreiteten und auch weitreichenden Trugschluss und zwar den, dass Antisemitismus ein greifbares, physisches Opfer benötigt – Menschen, die, verbal oder körperlich angegriffen, als Beleg für Antisemitismus verstanden werden können. Doch der moderne Antisemitismus geht hier weitaus subtiler vor als sein historisches Vorbild.
Gründe für den heutigen Antisemitismus sind (neben zahllosen anderen Ursachen) in einer manifestierten historischen Rolle zu finden. Eine seit Jahrhunderten aufrecht erhaltene „Sündenbockfunktion“ der Jüd_innen, erkennbar vom mittelalterlichen Antijudaismus Europas bis hin zu heutigen „modernen“ Ausformungen des Antisemitismus, etabliert klare Funktionen und zeichnet ein weltweites Schreckensbild. Jeder Jude und jede Jüdin zeichnen sich in diesen Schemata durch ähnliche bis identische Merkmale aus, sowohl charakterlich als auch optisch. „Der Jude“ (hier wird die abwertende Pauschalisierung offensichtlich) ist demnach stets raffgierig, hinterlistig und agiert konspirativ.
Das ist beispielsweise erkennbar an den den Jüd_innen unterstellten Brunnenvergiftungen und Kindermorden des Mittelalters, der Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung durch die als Fälschung entlarvten „Protokolle der Weißen von Zion“ in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts oder auch modernen Verschwörungstheorien von vermeintlichen „jüdischen Weltregierungen“, welche die Kapitalflüsse manipulieren.
Als moderne Ausformungen werden der „sekundäre“, sowie der „strukturelle“ Antisemitismus verstanden. Beide zeigen die neuen Varianten des Antisemitismus nach der Zeit des deutschen Nationalsozialismus und der mit ihm einhergehenden Shoa.
Strukturell antisemitisch zu agieren bedeutet, antisemitische Stereotypen zu bedienen, beziehungsweise dem klassischen, direkten Antisemitismus durch verkürzte Kritiken oder Verwendung gleicher oder ähnlicher Symbole unter die Arme zu greifen.
Ein repräsentatives Beispiel für strukturellen Antisemitismus findet sich in der IG-Metall-Mitgliederzeitschrift „metall“ vom Mai 2005 unter dem Titel „Die Plünderer sind da“.
Die grafische Umsetzung des Themas auf dem Titelblatt zeigt die Darstellung eines Mückenschwarms, welcher die deutsche Industrie, repräsentiert durch eine Fabrik, aussaugt. Die Mücken tragen Zylinder im Look von „Stars and Stripes“, haben kleine, überquellende Geldköfferchen und tragen Anzüge. Sie stellen US-amerikanische Investor_innen dar, die einfallen, um die vermeintlich wehrlose deutsche Industrie schlichtweg auszusaugen. Man könnte an dieser Stelle - auch wenn die Rolle der Mücke noch ungeklärt ist - die Fabrikanlage leicht mit dem mittelalterlichen Brunnen vergleichen.
In beiden Fällen scheinen Existenzen bedroht, zum einen die des Individuums - kein Geld bzw. heute kein Job - zum anderen die des Volkes, im Mittelalter durch den Wegfall von Finanzkraft wegen der angeblichen Wucherzinsen, heute durch den befürchteten Verlust nationaler Investitionskraft bzw. wirtschaftlicher Stärke. Das breite Grinsen der Mücken verrät, dass das Schädigen Lust bereitet, und offenbart einen glänzenden Goldzahn im Gebiss. Der Stachel des Insekts - dargestellt als dessen Nase - ist überdimensioniert und gebogen. Ähnlichkeiten zu Darstellungen von Jüdinnen und Juden im Dritten Reich drängen sich auf. Selbst wenn es möglich seien sollte abzustreiten, dass hier ein_e Jüd_in karikiert sein könnte, fällt es schwer zu verneinen, dass es sich um dieselbe Darstellungsform, als auch um exakt denselben Vorwurf, des „Aussaugens“ eines vermeintlichen Volkes, handelt.
Anders verhält es sich beim sekundären Antisemitismus. Dieser ist auf Grund der Subtilität der Judenfeindlichkeit schwer erkennbar. Ein Indiz für das Auftreten wäre zum Beispiel die unreflektierte oder unverhältnismäßige Pauschalkritik am Staat Israel.
Die Ursachen für diese umstrittene und viel diskutierte Variante sind in einem deutschen Kollektivgefühl zu suchen, basierend auf einer eben jenes Kollektiv betreffenden, als enorm unangenehm bzw. ungerechtfertigt empfundenen Scham aufgrund des Holocaust.
Gut umschreibt dieses komplexe Thema ein Zitat des israelischen Psychoanalytikers Zwi Rex, welcher feststellt: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen“.
Gefordert wird das Recht, eben jene Kritik anbringen zu dürfen, welche dem vermeintlichen deutschen Volk angeblich nicht gestattet wird. Gemeint ist natürlich die Kritik an „den Juden“, meist jedoch reduziert auf die Kritik an Israel. Der Einfachheit halber werden hier die Anhänger_innen einer Religion, vertreten durch den Staat Israel (mit welchem sie unbegründet gleichgesetzt werden) vermeintlich kritisiert, tatsächlich aber unreflektiert und pauschal verurteilt.
Der Grund hierfür wird mit der perspektivischen Wahrnehmung erklärt, als Deutsche_r über mehr als 60 Jahre von allen (Nationen) als schuldig (am Holocaust) gesehen worden zu sein. Das Resultat ist eine Übertreibung dessen, was uns über Jahrzehnte vermeintlich vorenthalten wurde.
Die Jüd_innen - und also Israel - werden als (passiver) Grund der Kritik am deutschen „Volk“ identifiziert - und somit in die Rolle eines abzuwehrenden Täters gedrängt.
Die Antwort auf die in der Überschrift gestellten Frage sollte lauten: „Ja, Antisemitismus ist auch heute ein aktuelles, weltweit auftretendes Problem“ - und dies in vielen Bereichen von Kultur, Politik und Gesellschaft. Oft tritt er verdeckt oder unerkannt, häufig sogar unwissentlich in Form von gefährlichen Stereotypen oder zu einfach und vorschnell gefundenen Schuldigen für komplexe politische Probleme auf- zum Beispiel in der Form der bösen Kapitalist_innen, statt der Einsicht in den an sich bösen Kapitalismus.
Der Journalist Philipp Gessler fasst in seinem Vortrag „der neue Antisemitismus“ mehrere Indizien für Antisemitismus zusammen. So tritt er laut Gessler beispielsweise auf, wenn:
1. ...Juden oder Israelis selbst für Antisemitismus verantwortlich gemacht werden.
2. ...wenn die Behauptung, die Juden hätten in den Medien und in der Politik zu viel Einfluss, zum Fakt erklärt wird.
3. ...wenn die Verschwörungstheorie verbreitet wird, Juden seien hinter den Kulissen für fast alle Konflikte der Welt verantwortlich.
4. ...wenn der Holocaust geleugnet oder relativiert wird, oder wenn behauptet wird, die Juden nutzten die Holocaust-Erinnerung für ihre Zwecke.
5. ...wenn Aktionen des Staates Israel mit den Taten der Nazis verglichen oder mit deren Vokabular beschrieben werden.
6. ...wenn -eine Verbindung zum Antiamerikanismus- die Behauptung verbreitet wird, die „jüdische Lobby“ lenkten die US-Regierung.
Rassismus – vom Neonazi verfolgt, von der Gesellschaft ausgegrenzt, vom deutschen Staat abgeschoben
Rassismus in Deutschland ist, wie in der Überschrift angedeutet, vielschichtig. Verantwortliche sind hierbei neben Neonazis aller Lager, die parlamentarische Politik sowie die deutsche Gesellschaft. Oft werden fälschlicherweise Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) auf prügelnde Neonazis oder aggressive rechte Jugendliche reduziert.
Doch gewalttätige Auseinandersetzungen mit rassistischem Hintergrund haben ihre Wurzeln in der Basis der Gesellschaft. Die Differenzierung und Distanzierung von denen, die als „anders“ abgewertet werden, ist ein deutscher Normalfall - und erst das in den Medien skandalisierte Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen wird zum Störfall.
Viele Beispiele eines spezifisch deutschen Rassismus sind jedoch eben jener, die Norm bestimmende, Mitte dieser Gesellschaft zuzuschreiben, da sie eben hier Anwendung finden. Erschreckend geläufige Titulierungen wie „Neger“, „Zigeuner“ (ziehende Gauner) oder auch einfach nur der „Kofferkuli“ am Bahnhof, sind hierbei nicht der extremen Rechten vorbehalten, und stellen einen wesentlichen Teil des dargestellten „anerkannten Rassismus“ dar.
Deutlich wird bei vielen sprachlichen Rassismen, dass offenbar Wert auf die Betonung der eigenen Überlegenheit aufgrund der „höherwertigen Abstammung“ gelegt wird.
Die Abstammung wird dabei mit überholten Klischees gleichgesetzt wie „Neger sind weniger wert“, „Zigeuner klauen“, oder beim so genannten Kofferkuli, die ethnische Ausdifferenzierung von „Herren“ und „Hörigen“. (Als „Kulis“ wurden billige chinesische Arbeitskräfte bezeichnet, welche für schwere körperliche Arbeit in den Kolonien, Südamerika oder den USA eingesetzt wurden.)
Indikatoren für gesellschaftlichen Rassismus auf einer anderen, nonverbalen Ebene lassen sich leicht statistisch darlegen. So liegt sowohl der Anteil höherwertiger Schulabschlüsse als auch der Anteil an Führungspositionen bei Migrant_innen oder auch Deutschen migrantischer Herkunft unter dem deutschen Mittel. Das deutsche Bildungssystem gesteht Kindern und Jugendlichen migrantischer Herkunft weniger Chancen zu, ebenso schwer findet der vermeintliche „Ausländer“ seinen Platz im deutschen Berufsleben. Die oft zitierte Chancengleichheit wird zur Phrase. Politisch spiegelt sich dies in der Städteplanung wieder. Durch Mietschwellen sowie fehlende kulturelle Durchmischung werden die oft sozial schwächeren (und damit unerwünschten) migrantischen Familien in Außenbezirke oder in für die deutsche Mittelklasse unattraktive Stadtteile „ausgelagert“. Nahezu jede deutsche Großstadt hat ein oder mehrere „Migrantenviertel“, zeitgleich jedoch ebenfalls Viertel, welche nahezu ausschließlich dem offensichtlich „deutschen“ und meist auch besser betuchten Klientel vorbehalten sind.
Ein weiterer Grundpfeiler für eine gesellschaftliche Basis der Ausgrenzung ist die staatsbürgerliche Unterscheidung aller Menschen in zwei Lager. Es gibt die einen, denen erlaubt ist, die Vorteile der westlichen Welt mit zu nutzen, und die anderen, denen keine Option außer der des Verlierers gelassen wird. Sichtbar wird das in der westlichen „Ausländerpolitik“, aber auch Asyl- oder eher Abschiebepolitik. Es wird klar nach national nützlich und national unnütz unterschieden. Verfassungsrechtliche Phrasen von Gleichheit oder Würde aller Menschen verlieren letztlich ihre Bedeutung, wenn schlechter situierte Menschen eben deshalb abgeschoben werden.
Vielen Tausenden wird so Monat für Monat der Eintritt in die Welt des strategisch genutzten Überflusses vorenthalten, während Menschen mit der nötigen Liquidität die Regeln leicht umgehen können.
Die rassistische Grundlage dieser Politik ist der durch den Patriotismus genährte Glaube unterscheiden zu können, was oder wer deutsch sei und was oder wer eben nicht. Da das historisch und kulturell kaum möglich ist, greift man meist unbewusst auf die Definition durch Abstammung zurück.
Zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus hieß es noch offensichtlicher „deutsch ist, wer deutsches Blut hat“. Heute gilt als deutsch: wessen Name sich deutsch anhört (und wer folglich mehrere Generation „deutsche Familiengeschichte“ haben muss), wer deutsch aussieht (wer würde schon einen dunkelhäutigen Menschen auf dem Marktplatz als Deutschen bezeichnen?) und wer sich „deutsch“ benimmt, sich also der als deutsch definierten Kultur anpasst, sich in den Gemeindeverband eingliedert oder sein Deutschlandfähnchen zur Fußball-WM schwenkt. Verkürzt könnte man sagen, dass das „Deutsch-sein“ des Gegenüber immer noch auf die Punkte Kollektivismus, Blut und Integration reduziert wird. Menschen, die die genannten Kriterien nicht erfüllen oder nicht erfüllen wollen, werden aktiv oder passiv ausgeschlossen. Und das ist Rassismus.
Nationalismus – Du bist Deutschland, wir sind Papst.
„Lieben Sie Deutschland?“, lautete einst die Frage eines Journalisten an Altpräsidenten Gustav Heinemann. Seine Antwort: „Ich liebe meine Frau.“
Doch was bringt Menschen dazu, zu behaupten, eine Nation zu lieben? Ist es wirklich die eigene Identifikation mit Errungenschaften, Kultur und Fortschritt? Warum sagen so wenige Deutsche, dass sie beispielsweise die USA oder auch Frankreich, Taiwan oder Ägypten lieben -oder andersherum- haben diese Nationen nicht genug Errungenschaften, von der Demokratie bis hin zur Medizin, um diese Liebe zu rechtfertigen?
Und wenn es um Geschichte und Fortschritt geht, warum dann nicht auch um Verbrechen, Rückschritt und Gewalt? Nahezu jede Nation hat in ihrer Geschichte genug davon vorzuweisen, um alle nationalen Fortschritte in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Ethik wieder auszugleichen.
Die Antwort ist einfach. Die Liebe zur Nation, ob Nationalismus genannt oder als Patriotismus verkauft, ist nicht objektiv, durchdacht, hinterfragt und danach bestätigt. Sie ist schlicht und einfach anerzogen.
Musterbeispiel Deutschland. Ein Blick in das Geschichtsbuch verrät, dass das deutsche Reich 1871 in Versailles gegründet wurde. „Doch warum in Versailles?“ ,könnte man fragen, „Das ist ja nun mal gar nicht in Deutschland.“ Eine andere Frage könnte eventuell sein: „Warum so spät?? Warum erst, als es das Europa der Nationalstaaten schon lange gab?“
Die Gründung des Deutschen Reichs sowie deren Vorgeschichte zeigen den Schritt von einer Vielzahl von Kleinstaaten ohne einheitliche Kultur, Sprache, Maßeinheiten, Religion oder Währung zu einer Nation. Historisch gesehen geschah das quasi über Nacht.
Der erste Reichskanzler Otto von Bismarck nutzte geschickt verschiedene Gelegenheiten, um erst Preußen gegenüber Österreich zu etablieren und im nächsten Schritt die Euphorie des Sieges über Frankreich, unter Beteiligung zahlreicher verbündeter Kleinstaaten zu nutzen um dem „deutschen Flickenteppich“ einen Rahmen zu geben - den einer Nation.
Die Gründung des Reichs barg noch alle Möglichkeiten in sich, eines Tages auf dieses „Deutschland“ stolz sein zu können, doch es hätte in den folgenden 130 Jahren viel geschehen müssen, um diese Erwartungen zu erfüllen. Und das hätten dieselben Menschen beispielsweise auch als Pol_in, Franzos_in, Schweizer_in oder auch Staatenlose_r hinbekommen. Stattdessen waren eher die Schattenseiten der deutschen Geschichte eh und je gezeichnet von „Deutschland, Deutschland“- Rufen und wehenden Fahnen unterschiedlicher Farbgebung.
So steht der deutsche „Hurra-Patriotismus“ des beginnenden 20. Jahrhunderts für den ersten Weltkrieg, sowie die Kolonialzeit und den ersten versuchten Völkermord (an den afrikanischen Herero); der Nationalsozialismus der dreißiger und vierziger Jahre war mehr als nur maßgebend für die Shoa und den zweiten Weltkrieg; und die Zeit des wieder geeinten Deutschland nach 1989 sowie das neue nationale Selbstverständnis als Ursache für deutsch-nationale Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln (alle 1992-1993) und ein gesteigertes Interesse der Bundeswehr an Auslandseinsätzen.
Wie im Abschnitt über Rassismus bereits kurz angeschnitten, werden die gewünschten Merkmale derjenigen, die sich am „nationalen Kollektiv“ beteiligen dürfen, immer noch an der Abstammung festgemacht. Exakt darin liegt die Gefahr der Verherrlichung der Nation insgesamt oder im Speziellen. Die Nation in ihrer einenden Funktion wird zum unbezähmbaren Moloch, der sich täglich dem direkten Vergleich mit anderen Nationen stellen muss, sei es im Fußballländerspiel, der Börsenbilanz oder auch dem direkten wirtschaftlichen Vergleich. Zweifelsohne begünstigt dies Technisierung und Entwicklung, jedoch mehr noch Differenzierung und Kontrahentenhaltung.
Nationalismus – das ist ein bisschen wie die Situation bei einem Fußballspiel: jeder Spieler hält die eigene Mannschaft für die klügere, hübscher, stärkere sowie historisch bedeutendere - beim anderen Team jede Menge ungesühnte Fouls und beim eigenen unzählige Schiedsrichterfehlentscheidungen.
Die künstliche Schaffung der Nation macht es uns möglich, die Menschen in Gruppen zu unterscheiden: hier die, die zu mir gehören (also beispielsweise als deutsch wahrgenommen werden), dort die, die sich außerhalb dieses Schemas bewegen, also nicht zu mir gehören. Schnell identifiziert man sich dann mit Goethe, Schiller oder Albert Einstein – aber natürlich nicht mit Hitler, Honecker oder Wernher von Braun, ebenso wenig wie mit den meist unbekannten „Helden“ anderer Nationen. Warum sollte man sich auch mit einem Voltaire rühmen, sollte man mal am Ballerman 6 eine Britin treffen...
Maßgebend für den gesellschaftlichen Einklang sind heute meist Presse und Parlamente. Während die Parlamente alle Mühe haben, Deutschlandassoziationen von V2-Raketen bis hin zu Lederhosen auszuradieren, und gegen werbewirksamere auszutauschen, hakt die Presse in den in der Bevölkerung bestehenden Patriotismus ein und verwandelt diesen erst in Auflage, dann in Umsatz.
Nationalismus und Patriotismus bedeuten stets Ausschluss und sollen Argumentationsgrundlagen für eine persönliche Höherwertigkeit bieten. Dabei steht der Patriotismus seinem scheinbar größeren Bruder in nicht vielem nach - nur in der Stigmatisierung der Wörter lassen sich noch Unterschiede ausmachen. Gilt der Nationalismus als „Alt“ und kommt im geistigen Wörterbuch gleich nach „Hitler“ und „KZ“- so steht die Wendung „Patriotismus“ zumindest seit Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ oder der Produktion aller möglicher Gebrauchsgüter in Einheits- Schwarz-Rot-Gold zur Fussball-WM 2006 für Energie, Spaß und junge hübsche Frauen.
Vor lauter Gefasel vom „gesunden Patriotismus“ werden somit selbst Millionen von Deutschlandfahnen und „Deutschland, Deutschland“-Rufen nicht als Nationalismen identifiziert oder auch nur ansatzweise hinterfragt. Das beweist: Wir müssen aufpassen, dass wir den Nationalismus vor lauter Deutschlandfahnen nicht aus den Augen verlieren.
Illustrationen findet ihr lediglich in der Print- und PDF-Version der Broschüre.