19.05.09 - Thüringer Allgemeine
Demokratie vermisst
Reaktionen auf die Entgleisung des Amstädter Bürgermeisters auf der jüngsten Stadtratssitzung.
Zur jüngsten verbalen Entgleisung von Arnstadts Bürgermeister ("Im Nazi ist mir zu viel Sozialismus drin") auf der Stadtratssitzung vorige Woche erreichten die TA-Redaktion etliche Wortmeldungen:
Altbekanntes Schauspiel
In der letzten Stadtratssitzung wurde wieder jenes Schauspiel aufgeführt, welches der Sitzungsgänger schon aus den Vorjahren kennt und das immer dann stattfindet, wenn das Thema irgendwie im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht: PDS/die Linke vs. Bürgermeister Köllmer. Die einen versuchen krampfhaft, Köllmer mittels verbalakrobatischer Spitzfindigkeit ins tiefbraune Lager zu rücken, - der Angesprochene versucht mit Borniertheit, Nazis und Kommunisten (wahlweise auch Sozialisten) gleich zu setzen, und so seine sture Haltung zu rechtfertigen. Hat sich Köllmer dann zu einem provozierenden Satz hinreißen lassen, können selbst Böttcher und Stiel nichts mehr machen. Beide, rechts und links vom Bürgermeister sitzend, versuchen, diesen oftmals von größeren Entgleisungen abzuhalten oder vermittelnd einzuspringen. Sind die Worte gesagt, ist das Entsetzen bei der Linken und allen Demokraten groß! Die Kontrahenten reagieren wahlweise mit Rücktrittsforderung oder dem Verlassen der Sitzung.
Dabei hätte man andere Möglichkeiten, auf geeignete Weise nicht nur gegen rechtsradikale Brandstifter zu protestieren, sondern auch dafür zu werben, was unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ausmacht: Meinungsfreiheit, Werte- und Ideenpluralismus! Man hätte durch die Möglichkeiten der (Kommunal-)Politik gestaltend aktiv werden können! Eine Möglichkeit hat Köllmer sogar selbst angeboten: Eine Diskussion über Nazis, Kommunisten und Extremismus in kleiner Runde. Warum aber nicht öffentlich? Zum Beispiel wäre anlässlich des Schlossfestes eine Podiumsdiskussion: "Demokratie und Extremismus" sicher gut beim Bürger angekommen. Zudem würde Arnstadt damit nicht nur zeigen, dass es kreativere Ideen hat als nur eine Protestkundgebung nach bekanntem Schema. Zugleich könnte Köllmer den Stadtratsbeschluss umsetzen, der ihn beauftragt, Aktionen gegen die rechte Kundgebung am 13. Juni zu organisieren.
Stephan Kunze, SPD, Mitglied des Stadtrats
Demokratie muss gelebt werden
Wer seinen Beißreflex gegen alles Linke so weit kultiviert, muss sich nicht wundern, wenn er auf dem rechten Auge blind wird. Die Gleichsetzung von Linken und Rechten mag ja an manchen Stellen einen gewissen Unterhaltungswert haben. Aber mit sachlicher Auseinandersetzung hat dies nichts zu tun. Wir sollten nicht vergessen: Politiker aus dem bürgerlichen Lager haben mit ihrer Weigerung, sich mit dem Problem des Rechtsextremismus auseinanderzusetzen, 1933 mit dafür gesorgt, dass ein Hitler an die Macht kommen konnte. Die Behauptungen, die AG"Demokratie braucht Zivilcourage" sei links unterwandert, wird auch durch gebetsmühlenartige Wiederholung nicht wahrer. Wenn die Linken regelmäßig zu den Sitzungen kommen und die anderen kaum, ist das keine Unterwanderung, sondern ein Versäumnis derer, die nicht oder nur sporadisch teilnehmen. Das alles hat jedoch mit Demokratie als gelebtem Gesellschaftssystem nichts zu tun.
Aus alledem ergibt sich:
1.) Am 13. Juni muss dennoch gegen die rechte Veranstaltung Widerstand organisiert werden.
2.) Der neu gewählte Stadtrat wird sich auf seiner ersten Sitzung mit der Frage beschäftigen müssen, ob eine AG"Demokratie braucht Zivilcourage" überhaupt noch gewollt ist.
3.) Mir ist in den letzten Tagen der Sinn abhanden gekommen, 20 Jahre friedlicher Revolution zu gedenken. Wir sollten diese Feiern in Arnstadt ausfallen lassen und lieber darüber nachdenken, wie wir das, was damals an Demokratie erkämpft worden ist, in diese Stadt wieder zurück zu bekommen.
Pfarrer M. Damm, Vorsitzender AG „Demokratie braucht Zivilcourage“
Offener Brief an den Bürgermeister
Sehr geehrter Herr Köllmer,
ist in Ihren Augen Josef Ackermann ein Sozialist oder gar Kommunist?
Diese Frage drängt sich mir auf, nachdem Sie in der letzten Stadtratssitzung erklärten, Sie seien deshalb kein Nazi, weil "im Nazi steckt zu viel Sozialismus". Am Nationalsozialismus stört sie das Wort Sozialismus mehr als Auschwitz und Millionen Kziegstoter, die eben diese Nazis zu verantworten haben. Sind Sie zuweilen nicht mehr Herr Ihrer Worte?
Ich mag nicht zu glauben, dass Sie als gebildeter Mensch nicht die Rolle der Führungseliten der deutschen Wirtschaft bei der Machtergreifung Adolf Hitlers und bei der Machtsicherung des NS-Regimes kennen. Oder aus welchem Grunde, glauben Sie, sind nach 1945 die wichtigen Führungseliten der deutschen Wirtschaft im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vor Gericht gestellt worden?
Dass die Spitzen und Eliten der deutschen Wirtschaft jemals den Sozialismus oder gar den Kommunismus einführen wollten, ist mir zugegebenermaßen neu. Sie wollen doch, sehr geehrter Herr Bürgertneister, sich nicht etwa mit der unseligen Äußerung, dass im Nazi zu viel Sozialismus steckt, rechts von den Nazis politisch definieren. Nachdem Sie sich selbst durch die entsprechenden Erklärungen im Stadtrat in eine politisch unmögliche Ecke gestellt haben, bitte ich Sie aus diesem Grunde, sich von diesen Äußerungen zu distanzieren und sich für diese bei den Bürgern der Stadt Arnstadt zu entschuldigen. Beschädigen Sie nicht weiter das Ansehen Ihrer Person und das Ansehen unserer Heimatstadt in der Öffentlichkeit!
Gerhard Pein, Linke, Mitglied des Stadtrates