Protestas en Chile (de)

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  • Die rechten und linken Parteien der herrschenden Ordnung halten zusammen
  • Chile: Eure Siege Sind Nicht Die Unseren!
  • Territoriale Vollversammlungen: autonome Strukturen des Kampfes
  • Vorläufige Notizen zur „anarchischen“ Massenrevolte, die die chilenische Region erschüttert
  • Chile: Wohin gehen wir? In Richtung Ungewissheit und permanenter Konfliktualität! Einige Worte von und für die Revolte im Oktober
  • Aus Chile: Ein anarchistischer Blick auf die Revolte und die Repression

Die rechten und linken Parteien der herrschenden Ordnung halten zusammen

Am 4. Dezember hat eines der repressivsten Gesetze in der Geschichte Chiles grünes Licht erhalten. Dieses Gesetz ist ein direkter Angriff auf unsere Klasse, denn dadurch wird ein rechtlicher Rahmen kreiert, um unsere gegenwärtige und zukünftige Kämpfe zu ersticken. Das hoffen die Mächtigen zumindest.

Von rechts bis links wird alles getan, um das herrschende Elend aufrechtzuerhalten. Das widerwärtigste dabei ist, dass die Linke, insbesondere der „Frente Amplio“ (ein linkes Parteienbündnis. Anm. d. Ü.), diesen Angriff der Kapitalistenklasse unterstützt. In etwas mehr als einem Monat hat unsere Klasse aus erster Hand das erfahren, was die weltweiten Kämpfe seit über einem Jahrhundert durch ihre selbsternannten Vertreter*innen erlitten haben. Boric, Jackson (beides Gründungsmitglieder vom „Frente Amplio“. Anm. d. Ü.) und der Rest dieser fragwürdigen Politiker*innen, haben durch ihre Unterschriften einen politischen Kurs unterstützt, dessen Zweck es ist, uns einfacher einzusperren, auf uns zu schießen und uns zu töten. Diese linken „Vertreter*innen der Bevölkerung“ sind jedoch ohne Zweifel keine Verräter*innen. Vielmehr waren sie seit jeher unterwürfige Vertreter*innen der Kapitalistenklasse und nichts anderes. Gestern haben diese Kreaturen mit menschlichem Antlitz mitsamt ihren politischen Cliquen mit feigen Ausreden um sich geworfen. Sie behaupteten, vielleicht einen Fehler begangen zu haben. Die Armen, sie sind so naiv was politische Entscheidungen angeht. Boric hat seinerseits schamlos rumposaunt, dass er mit der Unterstützung dieses Gesetztes nicht die sozialen Proteste, sondern die Plünderungen unterbinden möchte. Was für ein abscheulicher Typ. Erstens bestrafen die derzeitigen Gesetze bereits das Plündern (vergessen wir nicht, dass diese Gesetzte schon brutal genug sind und dass ihre Funktion darin besteht, die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Normalität zu gewährleisten, d. h. unsere Ausbeutung. Und das um jeden Preis.). Was die aktuelle Verschärfung der Repression ausdrücklich verurteilt, ist gerade die kollektive Aneignung und Zerstörung der kapitalistischen Infrastruktur und ihrer Waren – die wir selbst produziert haben – im Kontext einer sozialen Revolte bzw. eines Protests. Mit anderen Worten: Der immanente Ausdruck der proletarischen Kämpfe – die wir nicht unkritisch romantisieren – wird härter bestraft. Boric behauptet hingegen, dass einige der neuen Gesetzesartikel ein Instrument gegen die polizeiliche Repression seien. Ja klar. So ein Schwachsinn.

Der absurde Namen der Partei „Demokratische Revolution“ (eine linke Partei die Teil des „Frente Amplio“ ist) ist seinerseits ein gutes Beispiel für ein Oxymoron. Schon nur in der Namensauswahl zeigen sich die dürftigen intellektuellen und ethischen Fähigkeiten der Mitglieder*innen dieser Partei. Nachdem sie das neue Gesetz unterstützt hatten, haben sie eine Erklärung abgegeben, in der sie anerkannten, dass es ein Fehler war das neue Gesetzesprojekt unterstützt zu haben, weil es „ein verwirrendes Zeichen sendet“ und die Partei von der sozialen Mehrheit und ihrem Empfinden entfernt. Mit anderen Worten, sie lagen mit der aktiven Unterstützung dieses neuen Gesetztes nur deshalb falsch, weil sie nicht ahnten, dass ihre Entscheidung die Unterdrückung zu verstärken bei der großen Mehrheit nicht gut ankommen würde. Das sind die typischen kleinlichen Berechnungen des bürgerlich-politischen Gesindels. Sie geben offen zu, dass sie das Blut, das aufgrund dieses Gesetztes fließen könnte, nicht interessiert. Sie passen sich lieber den rechten Kräften an, die gerade heute einen historisch kleinen Rückhalt in der Bevölkerung haben.

Kommen wir zur Kommunistischen Partei. Sie hat das Gesetz abgelehnt und inszeniert sich als konsequent. Doch solch eine Position hat sie nur eingenommen, weil sie wusste, dass die bürgerliche Ordnung, die sie als konterrevolutionäre Partei immer verteidigt hat, nicht in Gefahr ist. Deshalb konnte die Kommunistische Partei es sich leisten, ein offen reaktionäres und repressives politisches Projekt (scheinbar) nicht zu unterstützten. Aber unser Gedächtnis ist nicht so schlecht, wie sie sich erhoffen. Wir vergessen nicht, dass die Kommunistische Partei weltweit ein Instrument der Konterrevolution par excellence ist. Wir vergessen auch nicht ihr alltägliches abscheuliches Handeln in allen sozialen Räumen, wie auch während Demonstrationen, in denen sie jeglichen Ausdruck der Autonomie konsequent bekämpften. Seit Jahren leisten sie parapolizeiliche Arbeit – darum nennt man sie hierzulande auch „Bullen in rot“ – in dem sie Genossen verprügeln und der Polizei übergeben. Wir kaufen der Kommunistischen Partei ihre gegenwärtige mittelmäßige Radikalität nicht ab. Weder heute noch in Zukunft. Und wir sagen ganz bewusst „mittelmäßige Radikalität“, weil die Kommunistische Partei hat diesen letzten repressiven Angriff nicht mal konsequent abgelehnt, sie hat sich lediglich kleinmütig enthalten.

Nun, da das Engagement dieser institutionellen und wahlorientierten Linken für die Verteidigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mehr als offensichtlich ist, müssen wir entsprechend handeln. Zu bekräftigen, dass es notwendig ist, die Vertreter*innen dieser linken politischen Apparate aus den durch die Hitze des Kampfes geschaffenen sozialen Räumen, insbesondere den Territorialversammlungen und Demonstrationen, auszuschließen, ist keineswegs eine Form der Spaltung oder des Sektierertums. Es ist nur eine von vielen anderen grundlegenden Selbstschutzmaßnahmen. Wir können nicht mit Leuten zusammenarbeiten, die mit unseren Feinden Gesetze unterzeichnen, die uns einsperren werden und nur dazu da sind, um den sozialen Kampf zu kriminalisieren und durch brutale Polizeirepression niederzuschlagen. Die linken Fraktionen der kapitalistischen Gesellschaft auszuschließen, ist eine grundlegende logische Entscheidung.

Chile, 05. Dezember 2019
Gefunden auf der FB Seite von „Omnia Sunt Communia“.
Übersetzt von Eiszeit

Deutsche Übersetzung: https://barrikade.info/article/2959

Chile: Eure Siege Sind Nicht Die Unseren!

Gegen den Sozialpakt der Parteien der herrschenden Ordnung. Nichts mehr wird so sein wie früher!

Seit Beginn der Revolte – vor über einem Monat – haben die Mächtigen erfolglos versucht die Kraft der sozialen Bewegung zu entschärfen. Die Bullen und das Militär haben aufgrund ihres skrupellosen Auftretens praktisch keinen Rückhalt in der Bevölkerung und das Klassenbewusstsein der Proletarier*innen hat sich im Inneren der Gemeinschaften, die sich im Kampf entwickelten, konstant verstärkt. Dank der sozialen Bewegung konnten wir uns neu erfinden. Eine Welle der Kreativität und Organisation hat uns ermöglicht, die verlorengegangenen Gemeinschaftsbeziehungen wiederherzustellen und die kapitalistischen Lügen zu enttarnen.

Der Staat und die Bourgeoisie haben verstanden, dass sich das Proletariat im Kampf von unten konstituiert. Deshalb setzen sie auf die Einheit von oben und auf den neuen Sozialpakt. Das Verlangen nach „Frieden“ und „Normalität“ innerhalb des kapitalistischen Friedhofs, eint die Bourgeoisie und die Polizei ist sich dessen bewusst. Daher entfesselte sie ohne Bedenken ihre brutale Gewalt, denn sie wissen, dass praktisch keine Kritik seitens der Mehrheit der Politiker*innen zu erwarten ist. Das Vorgehen der Polizei führte zum Tod von Abel Acuña. Er starb im Herzen der Proteste, in der „Plaza de la Dignidad“.

Die Einigung der politischen Parteien wurde unter vier Wänden getroffen. Eine Einigung die die Bevölkerung nicht repräsentiert und vom alten politischen Establishment getragen wird, dessen linke Fraktion zwar davon spricht, dass wir „noch nichts gewonnen haben“, aber unter „echten Errungenschaften“, mittelmäßige legale Anpassungen und demütigende Krümel versteht. Dies wird vom „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ verkörpert.

Sie versuchen uns zu spalten und wollen uns weismachen, dass bereits genug protestiert wurde. Sie wollen dass wir glauben, dass wir nur im Rahmen der Normalität und dieses herrschenden und überholten Systems „etwas“ erreichen können. Mit einem Pakt mit Mördern, wollen wir nichts zu tun haben. Wir lassen uns nicht täuschen, ihre Siege sind nicht unsere Siege und werden es auch nie sein!

Wir fordern:

  • Ende der Straffreiheit: Klärung der politischen Verantwortung aller Todesfälle, Folterungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen durch Bullen und Militärs. Strafverfolgung aller hohen Beamten.
  • Auflösung der Polizei. Nie wieder „Comandos Jungla“ („Dschungelkommandos“, eine Spezialeinheit der Polizei. Anm. d. Ü) oder Spezialkräfte, denn die einzige Funktion die sie erfüllen ist, die Armen zu unterdrücken.
  • Befreiung und Freispruch für alle Angeklagten der proletarischen Revolte.

Wir rufen dazu auf:

  • Die Mobilisierungen aufrechtzuerhalten
  • Den Generalstreik und die Interventionen in verschiedenen Produktionssektoren zu vertiefen
  • Die territorialen Versammlungen zu stärken. Sie sind ein unmittelbares Werkzeug gegen die Rekuperation und die Zermürbung. Die Erschaffung von Koordinierungskomitees kann die Vernetzung zwischen den unterschiedlichen territorialen Versammlungen erleichtern.

Chile 19.11.19

P.S.
Gefunden auf: https://hacialavida.noblogs.org/
Aus dem Spanischen übersetzt von Eiszeit

Deutsche Übersetzung: https://barrikade.info/article/2908

Territoriale Vollversammlungen: autonome Strukturen des Kampfes

Wir haben einen weiteren Text aus Chile übersetzt, in dem über die Wichtigkeit und Möglichkeiten der territorialen Vollversammlungen reflektiert wird.

Die territorialen Vollversammlungen prägen das Bild des sozialen Aufstands in Chile. Sie wurden landesweit von der Bevölkerung ausgerufen, um die unmittelbaren Bedürfnisse des Kampfes zu stillen und die Ausbreitung des sozialen Konflikts zu fördern. In den Vollversammlungen wird über das aktuelle Vorgehen wie auch über die Grenzen und Forderungen der Bewegung gesprochen. Oft haben sie einen starken anti-institutionellen und anti-parteilichen Charakter. Die Vollversammlungen spiegeln – in noch embryonaler Weise – das tatsächliche Bedürfnis des Proletariats wider, sich mit klassenrepräsentativen Machtorganen auszustatten, die seine Bedürfnisse bis zum letzten Atemzug verteidigen und durchsetzen. Dies ohne sich auf Kompromisse mit der politischen Klasse einzulassen.

Die Organisationsstrukturen befinden sich noch in einer Anfangsphase. Doch in ihnen zeigt sich das Bedürfnis und die Notwendigkeit direkten Einfluss auf die soziale Realität zu nehmen. Zugleich sind sie Orte der Kritik eines Lebens, das in jeglicher Hinsicht dem Staat und dem Kapital untergeordnet wird. Die Praxis der Vollversammlungen widersetzt sich dieser Unterordnung, denn die kollektive Organisierung – die notwendig ist, um unsere Probleme zu lösen und den Kampf zu vertiefen – fordert die Macht des Staates heraus in dem sie die Frage aufwirft, wer die Kontrolle über die Gestaltung der Gesellschaft hat. Deshalb ist es notwendig, dass die Vollversammlungen autonom bleiben. Sie sollen den Dialog unter den Ausgebeuteten fördern und nicht mit bürokratischen Institutionen in Verhandlungen treten. Nur durch die Auseinandersetzung mit den Klasseninteressen die auf dem Spiel stehen, werden wir uns das zurückholen können, was uns genommen wurde und nicht indem wir zwischen der Basis und dem Staat vermitteln.

Als Nachbarschaftsstrukturen sind die territorialen Vollversammlungen teil des Alltags. Damit sie weiterhin eine Waffe der Unterdrückten bleiben, muss ihr Funktionieren garantiert sein. D. h., dass sie in der Lage sein müssen, den Bedürfnisse des Kampfes wie beispielsweise Versorgung, Selbstverteidigung, Gesundheit, Mobilität, Kommunikation, Solidarität mit den Verhafteten usw. gerecht zu werden. Hieraus können sie die Kraft schöpfen, die ihnen Legitimität verleiht. In diesem Sinne sind die Versammlungen der autonome Ausdruck einer Gemeinschaft, die ihre Bedürfnisse und ihren Kampf gegen Staat und Kapital selbst organisiert. Deshalb dürfen sich die territorialen Vollversammlungen NICHT auf Petitionen oder auf die Herausarbeitung einer „Verfassungsgebenden Versammlung“ fokussieren. Wir wissen, dass viele Menschen immer noch an die sozialdemokratischen Märchen über den Staat als Lösung aller Probleme glauben. Wir wissen auch, dass solche sozialdemokratischen Ambitionen scheitern werden. Die Zustände in Chile werden sich in naher Zukunft verschlechtern. Es ist essenziell, dass wir unsere Lehren aus der gegenwärtigen Situation ziehen, bevor die Revolution ausbricht. Dazu gehört die Stärkung der territorialen Vollversammlungen bei gleichzeitiger Bewahrung ihres autonomen Charakters. Letzteres ist bisher unser größter Erfolg.

Der neu eingeleitete Zyklus des Klassenkampfes wird von langer Dauer sein. Der Aufstand, der sich in den letzten Wochen in Chile verbreitete, dauert immer noch an, und nichts deutet darauf hin, dass er enden könnte. Die Büchse der Pandora der sozialen Revolution beginnt sich zu öffnen und die Schaffung einer territorialen Macht steht auf der Tagesordnung. Das hat die gesamte politische Klasse in Alarmbereitschaft versetzt. Von links bis rechts hat die gesamte bürgerliche Institutionalität ihre Fäden gezogen, um diese autonomen Organisationsstrukturen aufzuheben oder zu integrieren. Zu ihrer Hauptstrategie gehört, die Bewegung in den engen Rahmen der politischen Repräsentation zu führen. Dafür wurden Bürgerversammlungen gebildet, die die Forderungen der Leute systematisieren und Petitionen erstellen sollen. Der Staat ist hierbei der einzig mögliche Gesprächspartner, und die Möglichkeiten des Dialogs beginnen und enden bei den Lösungen, die er uns anbieten kann. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Vollversammlungen zu Antriebsriemen des Staates werden.

Jeglicher Versuch das Kapitalverhältnis humaner zu gestalten, wird auf eine kapitalistische Weltkrise stoßen, die untrennbar mit der Umweltkrise verbunden ist. Für viele ist das die endgültige Krise des Kapitalismus. Von Griechenland bis Ecuador mussten linke Regierungen den Forderungen der Weltbank nachgeben und Sparpakete einführen, die wieder einmal vor allem die Arbeiterklasse besonders hart trafen. Die Sozialdemokratie wird immer der „gute Bulle“ sein, für den die Interessen des IWF und der nationalen Bourgeoisie über alles andere stehen.

Bisher hat der soziale Aufstand in Chile hauptsächlich auf den Straßen stattgefunden. Die spontanen Straßenproteste haben das ganze Land stillgelegt, vor allem durch die Konfrontation mit der Polizei und die Unterbrechung der kapitalistischen Zirkulation. Barrikaden, „cacerolazos“, Plünderungen und Brandstiftungen waren allesamt Teil des proletarischen Arsenals, um gegen die Macht zu kämpfen. Der Inhalt des sozialen Aufstands ist „gegen alles“, gegen das ganze System, das uns langsam umbringt. Die Bewegung der Vollversammlungen kann dem Straßenprotest einen Inhalt verleihen, der auf die wirkliche Lösung der Probleme und Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist und zugleich diejenigen Einstellungen und Werte fördert, die eine neue Lebensweise möglichen. Solidarität, Gemeinschaftsgeist, gegenseitige Hilfe, wie auch die aufständische Offensive können zum Debakel der kapitalistischen Produktionsweise werden.

Es ist jedoch notwendig und enorm wichtig, dass sich die Versammlungen auf die Arbeitsplätze ausdehnen, vor allem auf die strategisch zentralen Produktionssektoren. Zudem sollten sie die radikale Infragestellung der kapitalistischen Lebensweise bis zu den letzten Konsequenzen vorantreiben. Dies, damit sich eine Produktionsform durchsetzen kann, die nicht auf unendliche Kapitalakkumulation, sondern auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse fokussiert ist. Historische Beispiele wie die „Cordones industriales“1 oder die „Comandos Comunales“2 können entscheidend sein, um zu begreifen in was für eine Richtung wir uns bewegen wollen.

Es wird keine Veränderung möglich sein solange die Lebens- und Produktionsmittel nicht in den Händen der Arbeiter*innen sind. Wir müssen uns den Reichtum, den wir erzeugen, aneignen und selbst entscheiden, und produziert wird. Es geht nicht darum, über das Kapital zu regieren oder es selbst zu verwalten, sondern um die Erschaffung einer neuen Lebensweise. Die ganze Wirtschaft hängt von uns ab, und sie werden zittern, sobald sie bemerken, dass wir das erkannt haben.

Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Reproduktion der Lebensbedingungen, die vom Staat gewährleistetet wird, immer zugleich auch die Gewährleistung der reibungslosen Herrschaft einer Klasse über eine anderen beinhaltet. Dadurch wird der Kapitalismus zementiert. Mit oder ohne Verfassungsänderung wird der Staat immer über die Aufrechterhaltung der Ausbeutung wachen und die wesentlichen Grundlagen dieser Gesellschaft, nämlich Privateigentum und Lohnarbeit, intakt lassen. Aus der Hitze des Gefechts heraus, entwickeln wir eigene Werkzeuge, um das Bestehende zu zerstören und eine neue Welt zu erschaffen. Der Auftakt zur Revolution hat bereits begonnen.

ALLE MACHT DEN TERRITORIALEN VOLLVERSAMMLUNGEN!

Gefunden auf https://hacialavida.noblogs.org/

Aus dem Spanischen übersetzt von Eiszeit

Deutsche Übersetzung: https://kosmoprolet.org/de/territoriale-vollversammlungen-autonome-strukturen-des-kampfes

  1. In den 1970er populär: Koordinierungskomitees, um die Vernetzung der Arbeiter*innen in verschiedenen Fabriken und Arbeitsplätzen zu ermöglichen.
  2. Komitees für die Selbstverteidigung, Bildung und Gesundheit.

Vorläufige Notizen zur „anarchischen“ Massenrevolte, die die chilenische Region erschüttert

Am Freitag, den 18. Oktober, brach in der Stadt Santiago eine wilde Revolte aus. Am nächsten Tag hatte sie sich auf nahezu alle Städte des Landes ausgebreitet. Die Fahrpreiserhöhungen für Busse und U-Bahnen können nicht als einzige Auslöser für die Massenproteste betrachtet werden. Viel eher liegt die Wurzel des Konflikts in einer verallgemeinerten Unzufriedenheit mit dem Leben innerhalb des Kapitalismus. Dies führte dazu, dass eine riesige und unkontrollierte Bewegung auf die Bühne der Geschichte trat. Wir stimmen den Genoss*innen zu, die auf einem Flyer, der währen der Revolte verteilt wurde, festhielten: „Nichts wird mehr so sein, wie früher“.

Positive Aspekte der antagonistischen Bewegung

  • Das Erste, was wir hervorheben müssen, ist die spontane Verbreitung der Bewegung und ihre praktische Kritik an der Gesamtheit der kapitalistisch-neoliberalen Lebensweise: Enteignungen und solidarische Massenverteilung von Waren großer Kapitalist*innen (Supermärkte, Einkaufszentren, Apotheken, Banken usw.), Zerstörung der staatlichen Infrastruktur (Polizeistationen und weitere staatliche Institutionen), massive Ablehnung der repressiven Staatsorgane in einem „demokratischen“ Kontext (Polizei, Kriminalpolizei und Militär) und eine intuitive und skizzenhafte Kritik an der Gesamtheit des kommodifizierten Lebens (es gibt keine konkrete „Forderung“, man möchte „alles ändern“).
  • Die ungeheure Dynamik, die von der proletarischen Jugend ausging, ist ebenfalls hervorzuheben. Insbesondere ihre programmatische Unnachgiebigkeit und ihre subversive Kampfbereitschaft.
  • Die wilden Proteste stellten tatsächlich einen erheblichen Schaden an und bedrohten das Privateigentum der Großkapitalist*innen dieses Landes. Das war der eigentliche Grund für den Einsatz des Militärs. Die herrschende Klasse war entsetzt ab der Revolte.
  • Einen weiteren Aspekt, den es hervorzuheben gilt, ist die Verbreitung von kleinen Gruppen, die während den Demonstrationen offensiv die Repressionsorgane des Staates angreifen und zugleich eine Form der Selbstverteidigung der Protestierenden sind. Solche Gruppen bildeten sich nicht nur im Zentrum der Stadt, sondern auch in den Randbezirken. Es gibt so etwas wie eine „diffuse proletarische Massengewalt“, die sich inmitten der Barrikaden solidarisch koordiniert, was – zumindest bis jetzt – jede Art von Spezialisierung oder Professionalisierung der offensiven Selbstverteidigung überflüssig macht. Bisher war dies sehr effektiv.
  • Der Bruch mit der alltäglichen Isolation und Atomisierung dieses Systems äußert sich in der spontanen Klassensolidarität und der sozialen Kommunikation, die allesamt die vorgefertigten Rollen innerhalb dieser Gesellschaft über Bord werfen.
  • Trotz des „Ausnahmezustands“, der Ausgangssperre und der Militärpräsenz auf den Straßen, hat das Proletariat keine Angst. Die Ausgangssperre wurde bisher überhaupt nicht respektiert und der Hass auf das Militär steigt kontinuierlich. Der Kampf geht trotz der brutalen Unterdrückung weiter. Dies, auch wenn die Repression eine bisher unbekannte Zahl ermordeter, gefolterter, verschwundener und inhaftierter Menschen hinterlassen hat. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens wurde in vielen Regionen, darunter auch Hauptstadtregionen, angekündigt, dass die Ausgangssperre aufgrund des sozialen Drucks des Proletariats aufgehoben wird.
  • Trotz aller Bemühungen des Staates, Maßnahmen zu ergreifen, um „etwas Normalität“ einkehren zu lassen und der Verunglimpfung der Proteste seitens der Massenmedien, war es bisher unmöglich den Normalzustand wiederherzustellen. Unsere Klasse protestiert weiterhin täglich und dies ohne um Erlaubnis zu fragen – alle Demonstrationen waren „illegal“.
  • Der soziale Kampf ließ sich nicht durch die von den Medien hervorgebrachten spektakulären Bilderwelten irritieren: Das Proletariat hat erkannt, dass die wesentliche Funktion der Presse während solch einem sozialen Konflikt darin besteht, die Fakten zu verzerren und ein Narrativ zu erstellen, das den Interessen der herrschenden Klasse entspricht – Journalist*innen entpuppten sich als „Sprecher*innen“ des Kapitals.
  • Die Bewegung errichtet im Rahmen der Revolte nach und nach in verschiedenen Gebieten eigene Strukturen des Kampfes. Dazu gehören selbstorganisierte Versammlungen von Nachbar*innen in verschiedenen Stadtvierteln und Gegenden. Es wird eine antikapitalistische Perspektive von unten aufgebaut, um dem prekarisierten Leben etwas entgegenzuwirken. Wir halten diese Strukturen der proletarischen Assoziation für wichtige Organe, um eine Gemeinschaft des Kampfes zu bilden. Sie drücken die Notwendigkeit der Selbsttätigkeit der Proletarier*innen aus, die darum gewillt sind autonom und unabhängig von äußeren Kräften zu agieren.
  • Wichtige Sektoren des Proletariats haben die Vorschläge für Reformen, mit denen die Regierung versucht das Feuer der Revolte zu löschen, kategorisch abgelehnt. Sie gelten als „unwürdige Krümel“, was den Staat, zumindest bis jetzt, in eine verzwickte Lage brachte.
  • Es gibt keine politische Kraft, die in der Lage wäre, sich als Führung der Proteste zu etablieren und einen Dialog mit der Regierung zu führen. Das verwirrt und beunruhigt die Bourgeoisie. Es ist eine Revolte ohne Anführer*innen. Daher das „anarchische“ dieser Bewegung.

Die Widersprüche, die die revolutionären Minderheiten innerhalb der Bewegung bekämpfen müssen

  • Während den Massendemonstrationen am Freitag, den 25. Oktober, an denen, nach offiziellen Angaben, allein in der Stadt Santiago mehr als 1,5 Millionen Demonstrant*innen teilnahmen, gab es unzählige patriotische Appelle und Aufrufe zur nationalen Einheit. Die Klassenperspektive droht dadurch in den Hintergrund zu geraten. Man denke auch beispielsweise an die Zurschaustellung chilenischer Flaggen – die bisher in den Protesten nicht weit verbreitet waren – und an die festliche und pazifistische Atmosphäre, die den ganzen Tag über herrschte. Laut der Regierung eröffneten die Massendemonstrationen einen Weg „für die Zukunft und die Hoffnung“.
  • Bestimmte organisierte Sektoren der Arbeiter*innenbewegung, haben gezögert, an der Revolte teilzunehmen. Zum Beispiel die Bergarbeiter*innen des staatlichen Unternehmens CODELCO und die Gewerkschaften, die Teil der landesweiten Arbeitnehmer-Koordination (NO+AFP) sind. Doch die Gewerkschaft der Hafenarbeiter*innen von Chile (UPCH) und die kämpferische Gewerkschaft SINTEC aus dem Bausektor, sind erfreuliche Ausnahmen.
  • Die Gerüchte die von der Presse und der Regierung verbreitet werden, stoßen in gewissen Gegenden auf Anklang. Zu den verbreitetsten Gerüchten gehört eine angebliche Welle von Plünderungen, die sich gegen Privathaushalte und kleine Unternehmen richtet. Auch wenn es tatsächlich zu solchen Vorfällen kam, handelt es sich um Einzelfälle. Die Angstmacherei materialisierte sich im Phänomen der Bürgerwehren, die mit gelben Westen durch die Quartiere marschieren, um die Nachbarschaft vor nicht existierenden Plünderungen zu schützen. Solche Entwicklungen sind gefährlich, weil sie der Nährboden für neofaschistische-ultrarechte Strömungen sind und weil sie Proletarier*innen gegeneinander ausspielen.
  • Mitglieder*innen traditioneller Parteien und der „neuen Linken“ – die dasselbe sind – versuchen in den Versammlungen und selbstorganisierten Rätestrukturen, sich als Repräsentant*innen der Bewegung zu inszenieren, um ihre politische Agenda durchzusetzen und in Verhandlungen mit dem Staat zu treten.
  • Trotz der qualitativen Sprünge, die die flächendeckende Verbreitung der Bewegung mit sich brachte, ist es ihr nicht gelungen, den sozialen Konflikt als eine Klassenfrage zu verstehen. Dies ist eine enorme Schwäche der Bewegung, der man entgegentreten muss. Die verstärkte Identifikation mit der „Mittelklasse“, die von einigen Sektoren des Proletariats während den Massendemonstrationen promoviert wurde, muss entschlossen kritisiert werden. Denn solche eine Identifikation, wird, neben den Massenmedien, hauptsächlich von Parteien getragen, die die herrschende Ordnung aufrechterhalten wollen.
  • Die Revolte führte uns vor Augen, dass die revolutionären Minderheiten desorganisiert und fragmentiert sind. Dennoch beteiligten sich viele Revolutionär*innen von Anfang an an der Bewegung und versuchten, trotz begrenzter Mittel, durch Aktionen und Agitation, ein wenig Orientierung in das ganze Chaos zu bringen. Die Linke und die Leninist*innen im Allgemeinen wollten sich nicht in die unkontrollierbare Revolte stürzen, mehr noch: sie distanzierten sich von ihr und verurteilten die Plünderungen. Erst drei Tage nachdem die Revolte entfacht war, gingen sie auf die Straßen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, eine offene antikapitalistische Bewegung aufzubauen, die die radikalsten Sektoren der Klasse zusammenführt.

Vorläufige Perspektiven

Egal wie dieser Konflikt ausgeht, eins ist klar geworden: Die Revolte hat einen irreversiblen Bruch erzeugt, der unsere Klasse prägen wird. Was Tausende und Abertausende von Proletarier*innen – viele von ihnen ohne Erfahrung in sozialen Kämpfen – in diesen Tagen erlebt haben, kann nicht aus dem kämpferischen Gedächtnis unserer Klasse gelöscht werden. Diese Revolte bietet eine einzigartige Gelegenheit, die nicht vergeudet werden sollte. Es ist deutlich geworden, dass nur durch den sozialen Kampf konkrete Forderungen und Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats durchgesetzt werden können. Wir haben unsere eigene Stärke erkannt. Die flächendeckende Revolte trägt in sich die latente Möglichkeit einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft, eine Versöhnung der menschlichen Spezies mit sich selbst und ihrer natürlichen Umwelt. Diese Möglichkeit trat in diesen Tagen an die Oberfläche und zeigte deutlich, dass die Verachtung gegenüber der Bevölkerung, die von verschiedenen subversiven Gruppen seit geraumer Zeit verbreitet wurde, vollkommen abzulehnen ist. Man denke z. B. an Diskurse, die die gesamte Menschheit zum Krebsgeschwür erklärten oder beteuerten dass das Proletariat apathisch und tot sei.

Die Revolte zeigt: Das Proletariat ist nicht tot. Wir sind kein variables Kapital, wir haben eine große Rolle bei der Aufhebung der kapitalistischen Welt zu spielen. Das hat sich in der Praxis gezeigt. Vorerst muss sich der Kampf auf der Straße und in den Versammlungen gegen den Sozialpakt richten, der nichts weiter als eine reformistische Rekuperation ist. Die Revolte stellte intuitiv die Grundlagen der kapitalistischen Sozialstruktur in Frage und dies kann nicht aus dem historischen Gedächtnis gelöscht werden. Wir wollen weiter, viel weiter gehen. Wir bewegen uns in Richtung Leben.

Einige Proletarier*innen im Kampf in der chilenischen Region.
Samstagmorgen, 26. Oktober
Subversiver Frühling 2019

Aus dem Spanischen übersetzt von Eiszeit. Text gefunden auf „Proletarixs en Revuelta“:
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=108530870576815&id=104222834340952&__tn__=K-R

Deutsche Übersetzung: https://barrikade.info/article/2791

Chile: Wohin gehen wir? In Richtung Ungewissheit und permanenter Konfliktualität! Einige Worte von und für die Revolte im Oktober

Ab einem bestimmten Punkt gibt es kein Zurück mehr. Das ist der Punkt, der erreicht werden muss. – Franz Kafka

Der unbeugsame Protest zweitrangiger Student*innen gegen die Fahrpreiserhöhung der U-Bahnen und die sofortige Antwort der Repression bildeten den günstigen Kontext für den sozialen Krieg, der in all seiner uneingeschränkten Reinheit Tage später ausbrach.

Die Dynamik des Konfliktes war rasant, unvorhersehbar und instinktiv. Das Unwohlsein, das sich zunächst hauptsächlich gegenüber dem U-Bahnverkehr äußerte, wurde zu einem allgemeinen Unbehagen und begann aufzulodern, sichtbar zu werden, Formen des Kampfes auszumachen und buchstäblich an jeder Straßenecke von Santiago zu explodieren. Am 18. Oktober 2019 brach eine großflächige Revolte überall in der Hauptstadt aus, Barrikaden und Zusammenstöße entwickelten sich überall und zu jeder Zeit. Verschiedene Symbole, Strukturen und die Infrastruktur der Macht wurden in der ganzen Stadt attackiert und sehr rasch auch überall im Land. Als die Ordnung gebrochen war und das Verbrechen die Straßen erfüllte, fanden sich schnell Individuen zusammen und griffen das an, was sie immer als ihre Ketten empfunden hatten. Es war kein Plan, sondern die Spontanität, die den Feind so klar identifizierte: den Staat, das Kapital und ihre repressiven Kräfte. Die abgefackelten und geplünderten Ziele sind die besten Beispiele: Ministerien, Finanzinstitute, Landräuber*innen, große Warenhäuser, die mit Handelswaren und Lebensmitteln gefüllt waren und vieles mehr.

Die revolutionäre Gewalt wurde von weiten Teilen der Unterdrückten anerkannt und entfesselt.

Einige abscheuliche Theoretiker*innen oder Enthusiast*innen von geringster „politischer Kompetenz“ haben gefragt: Wo waren die Anarchist*innen? Die Antwort ist ebenso schlicht wie einfach: Auf den Straßen, in den Nachbarschaften, in den Städten, in der vielfältigen Revolte, bei den Straßenkämpfen.

Es gab mit Sicherheit nicht viel Zeit, sich hinzusetzen und einige Ideen niederzuschreiben oder zu entwerfen, das war dieser Tage schlicht unmöglich gewesen.

Angesichts der Ausdehnung und Intensität der Revolte, die zeitweise tatsächlich in der Lage zu sein schien, den Staat innerhalb kurzer Zeit abzusetzen, war die Reaktion der Mächtigen die Ausrufung eines „Ausnahmezustands“. Sie ließen Einheiten der Armee in den Straßen patroullieren und verhängten eine Ausgangssperre, die in verschiedenen Regionen tagelang anhielt.

Die rasche Aufhebung der Fahrpreiserhöhung durch die Autoritäten offenbarte, dass diese Revolte keinem klaren Anliegen folgte. Sie hat keine spezifischen „Forderungen“ oder „Ansprüche“, oder um es anders auszudrücken, es gibt so viele, dass sie sich letztlich gegen die von Herrschaft und Waren beherrschte Welt richtet.

Die Repression bediente sich eines Arsenals, das – auch wenn es nie ganz verschwunden war – in einem Backlash seine historische Kontinuität wiederaufnimmt: Sexuelle Gewalt, tausende verhaftete Menschen, hunderte Verletzte durch Flashballs, Gummigeschosse (LBD), und scharfe Munition, dutzende von compas, die ihre Augen verloren, Folterungen, Morde, bei denen die Körper in Feuer geworfen werden, um die uniformierten Urheber*innen dieser Massaker zu verschleiern und eine ganze Serie von verschiedenen und erfolgreichen Methoden der Aufstandsbekämpfung.

Die Dinge verändern sich schnell und nehmen ihren eigenen Lauf. Als Anarchist*innen sind wir auf den Straßen, um den Punkt zu erreichen, an dem eine Rückkehr zur Herrschaft unmöglich ist. Es kamen verschiedene Positionen zur Praxis unseres Kampfes, der Athmosphere der Revolte und den daraus entstehenden Möglichkeiten auf. Einige stimmten den Aufrufen und Bestrebungen zu, Nachbarschaftsversammlungen zu bilden, Orten der „Gegenmacht“ oder „Macht von unten“, die von der Presse als „Bürger*innenräte“ bezeichnet werden, die es erlaubten eine Liste verhandelbarer Forderungen zu erarbeiten und die natürlich Gesichter oder Organisationen mit denen Mensch eine Einigung treffen könnte, schaffen würden. Versammlungen, die sich – wie wir es beobachten – in Bürger*inneninitiativen verwandeln und einen friedlichen Weg aus dem Konflikt suchen, stellen sich als weiteres Rädchen im Getriebe der Herrschaft heraus. Die Zuspitzung des Konflikts öffnet unbestreitbar Wege, die es ermöglichen, sich zu treffen, etwas zu schaffen und aufzubauen, immer mit der Perspektive des Kampfes und auf eine antiautoritäre Art und Weise Netzwerke mit verschiedenen Personen und Gruppen zu bilden, die weit von jeder Form der Missionierung oder zentralisierten Versuchen der Machtübernahme entfernt sind.

In dieser Hinsicht, wenn die Idee der permantenten Konfrontation ist, dass wir nichts als gegeben oder ewig betrachten, muss die Dynamik des Kampfes notwendigerweise auf die Eliminierung jeder Art von Autorität zielen, sei es der Staat, die Versammlung oder irgendeine andere Institution, die unsere Leben kontrollieren will.

Diese Revolte hat keine Namen oder eine einzige Richtung, sie gehört nicht zu irgendjemandem, weil sie allen Rebell*innen und Aufständischen gehört, die, wie wir auf der Straße kämpfen. Daher ist jede lächerliche Art der Vereinnahmung irgendeiner Aktion im Kontext dieser Revolte ein plumper Versuch, sich zum*zur Anführer*in aufzuspielen.

Andererseits sind die in vergangenen Diskussionen über ähnliche Situationen, jedoch mit einem eindeutig gleichförmigeren Puls, dargestellten Notwendigkeiten nun unerlässlich. Räume der Abstimmung und Begegnung zu schaffen, wo es die wichtigste Aufgabe ist, die gewaltsame Konfrontation gegen den repressiven Staatsapparat fortzuführen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Macht ihr brutalstes Gesicht auf den Straßen gezeigt, das – weit davon entfernt uns abzuschrecken – für uns ein Aufruf ist, unseren Horizont um die neuen Szenarien, die sich eröffnen und näherrücken zu erweitern.

Um die Offensive als echte Praktik jenseits des bloßen Redens zu begreifen, müssen wir in der Lage dazu sein, eine Infrastruktur aufzubauen, die es uns erlaubt, anzugreifen. Das ist der Punkt, an dem einige Zweifel die Anspannung verstärken: Sind wir in der Lage dazu, die gewaltvolle Konfrontation gegen die Macht in diesem neuen Panorama zu unterstützen, zu intensivieren und auszuweiten? Bis zu welchem Grad ist die Revolte ansteckend und reproduzierbar? Wir haben erlebt, wie die Sozialdemokratie diese Wut aufgefangen hat, sie in einige Forderungen „von außen“ kanalisiert hat. Wir haben keine Forderungen, sondern Ansprüche und unser Anspruch ist die Zerstörung des Staates, seiner Befürworter*innen und Verteidiger*innen. Möge die soziale Katastrophe den Zusammenbruch der auf der kapitalistischen Logik gründenden Beziehungen einleiten und uns Affinität dabei helfen, zu diesem Punkt, an dem es keine Umkehr gibt, zu kommen.

Wie so oft haben wir keine Antworten, nicht wie andere, deren Organisationen bereits die Verwaltung und den Zusammenschluss dieser Versammlungen, deren Dauer, Widerrufbarkeit und Statuten planen, sondern eher Fragen und Negationen, da wir diejenigen sind, die Anarchismus als permanenten Konflikt betrachten. Angesichts der Ungewissheit des Moments sammeln wir Erfahrungen, Erkenntnisse, lesen, lernen und teilen Reaktionen und führen wichtige Gespräche in den Stunden, die uns neben den intensiven Konfrontationen auf der Straße und dem Ungehorsam gegenüber der Ausgangssperre bleiben. Wir wissen, dass dieser Moment ein wichtiger war, ist und sein könnte und dass er Möglichkeiten der effektiven Zerstörung des Staates bietet, die sich nie zuvor geboten haben, aber dennoch sind wir noch immer ablehnend gestimmt, sogar in diesen stimmungsvollen Momenten. Wir wissen sehr gut, was uns zu Sklav*innen macht und unsere Schritte müssen immer in die entgegengesetzte Richtung führen.

Last uns deutlich werden. Die, die das Kapital und die Herrschaft unterstützen, befürworten und verteidigen sind unsere Feind*innen.

Für die Befreiung aller Gefangener der Revolte und der subversiven Gefangenen!

Solidarität mit den Verwundeten und denen, auf die losgegangen wurde!

Die Revolte ist reproduzierbar und ansteckend!!

Du glaubst nicht, wie die Mächtigen zittern würden, wenn wir die Gewalt zu ihnen bringen. Wenn ihre Privilegien und Leben bedroht wären, würden sie verhandeln, um nicht alles zu verlieren. – Ulrike Meinhof

Einige Antiautoritäre für die soziale Katastrophe

Diese Übersetzung folgt der englischen Übersetzung bei Act for Freedom Now eines ebenfalls dort zu findenden Textes auf Spanisch zu den Revolten aus Chile.

Deutsche Übersetzung: https://zuendlumpen.noblogs.org/post/2019/10/31/chile-wohin-gehen-wir-in-richtung-unsicherheit-und-permanenter-konfliktualitaet-einige-worte-von-und-fuer-die-revolte-im-oktober/

Aus Chile: Ein anarchistischer Blick auf die Revolte und die Repression

In Chile herrscht derzeit ein von der rechten Regierung Sebastián Piñeras ausgerufener Ausnahmezustand, der das Ergebnis des Ausbruchs einer Revolte am Freitag, den 18. Oktober 2019 ist.

Dieser Text entstand aus dem Bedürfnis heraus den Gefährt*innen aus den verschiedenen Teilen der Welt die derzeitige Situation, wie sie in dieser Region erlebt wird, näherzubringen.

Wir geben hier wieder, was wir aus einer anarchistischen Perspektive für die relevantesten Punkte halten, um die derzeitigen Ereignisse bekannt zu machen und zu ihrem Verständnis beizutragen.

Vorspiel: Der Kampf der Jugend und der Funken, der das Feuer entfachte

Nach einer Woche des massenhaften Schwarzfahrens mit der U-Bahn im Vorfeld der Fahrpreiserhöhungen, das besonders von Student*innen geprägt war, folgten zahlreiche Akte individuellen und kollektiven Ungehorsams, die in der Zerstörung der Infrastruktur und Zusammenstößen mit Polizeikräften innerhalb und außerhalb der U-Bahnhaltestellen resultierten und die sich über verschiedene Stadtteile von Santiago ausbreiteten.

Am Freitag, den 18. Oktober war die Ausbreitung dieses massenhaften Schwarzfahrens und der Radikalitätsgrad, den diese Proteste entwickelten, von vielen nicht erwartet und von der Regierung unterschätzt worden, die zusammen mit ihren loyalen Journalist*innen und den Sozialwissenschaftler*innen bis heute nicht in der Lage dazu ist, zu erklären, warum diese Ereignisse zu einer Situation flächendeckenden Chaos führte, das bis zum heutigen Tag anhält.

Erster Akt: Ausbruch einer beispiellosen Revolte im Post-Diktatorischen Chile

Am Freitag, den 18. Oktober radikalisierte sich die Revolte in dem Moment, als es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam und sich die Zerstörung kapitalistischer Infrastruktur in den Straßen der Santiagoer Innenstadt ausbreitete. Begonnen in den Außenbereichen des Regierungspalasts brauchten die Akte der Straßengewalt nicht lange, um sich bis spät in der Nacht in verschiedene Teile der Stadt auszubreiten.

Mit einer Situation allgemeiner Rebellion und weitschweifigem Chaos in zahlreichen Stadtteilen konfrontiert, waren die Polizeikräfte nicht in der Lage, den Ausbruch der Wut zu kontrollieren, der seither weite Teile einer Gesellschaft erfasst hat, die nicht länger schläft und die die Schnauze voll hat von der ganzen Unterdrückung und der Prekarisierung des Lebens, die in dem neoliberalen ökonomischen System und dem Polizeistaat, der in Chile während der jüngsten Zivil- und Militärdiktatur (1973-1990) installiert wurde, begründet liegen. Die Menschen haben auch die Schnauze voll den verschärften Lebensbedingungen und der Herrschaft, die sowohl von den Mitte-Linken und rechten Regierungen, die sich seit der Rückkehr zur Demokratie abgewechselt hatten, verschärft wurden.

Den Riots, die im Zentrum der Stadt begannen, schlossen sich später tausende von Menschen an, die in ihren Nachbarschaften demonstrierten und die als Form des Protests auf leere Töpfe schlugen, aber auch Riots, Brandstiftungen und Zerstörungen lostraten, die sich in zahlreichen attackierten, geplünderten und niedergebrannten Bussen, öffentlichen Gebäuden und Bürogebäuden ausdrückten und als wesentliches Element die dutzenden U-Bahnhöfe enthielten, die von Horden von Individuen bis spät in die Nacht voller Wut zerstört und in Brand gesteckt wurden.

Die Regierung zögerte nicht lange, bevor sie in Santiago den Notstand ausrief, einen Ausnahmezustand, der den Einsatz des Militärs auf den Straßen und den Einsatz bewaffneter Kräfte zur Wiederherstellung der Ordnung beinhaltet.

Dennoch breitete sich bereits eine massive, natürliche, unkontrollierbare und noch nie dagewesene Revolte in der post-diktatorischen Landschaft aus, die in der Praxis die Gehorsamkeit, Unterwürfigkeit und Angst auslöschte, die die Dekaden kapitalistischer Herrschaft in Chile den Menschen auferlegt hatten.

Zweiter Akt: Die Ausweitung des zerstörerischen Ungehorsams und der Beginn der Ausgangssperre

Am Samstag, den 19. Oktober wurden angesichts der anhaltenden und sich zuspitzenden Unruhen Militäreinheiten in verschiedenen Teilen der Stadt stationiert. Im Zentrum von Santiago und in den umliegenden Stadtteilen bewachte das Militär die Straßen, kommerzielle Gebäude und U-Bahnhöfe. Dennoch wichen die Demonstrant*innen aller Lager vor der Militärpräsenz nicht zurück und lehnten diese aufgrund der lebendigen Erinnerung der Repression, die sie wenige Dekaden zuvor während der Jahre der Diktatur erlitten hatten, allgemein ab.

Am gleichen Tag stieg die Anzahl der von Demonstrant*innen abgefackelten Busse, Autos und U-Bahnhaltestellen an. Zeitgleich gerieten die Plünderungen von Supermärkten und großen Einkaufszentren außer Kontrolle und das Bild von tausenden Menschen, die sich ihre Leben zurückeroberten, indem sie sich die Produkte aus den Zentren des Konsums griffen, wurde zu einem der lebendigsten Bilder dieser Tage der Revolution und war ein wichtiger Faktor für die von den Plünderungen und die Gewalt überforderte Regierung, in der gleichen Nacht eine Ausgangssperre in Santiago zu verhängen.

Ohne jedes Schamgefühl verkündeten der Präsident und der für die Stadt verantwortliche Militäroffizier den Medien die Beschränkung der „Bürger*innenrechte“, die an diesem Abend von 19 Uhr bis 6 Uhr des folgenden Morgens dauern sollte. Auch in dieser Nacht hielten die Demonstrationen, Riots, Plünderungen, Brandstiftungen und Konfrontationen mit den Repressionsorganen in der ganzen Stadt bis in die frühen Morgenstunden an.

Zwischen Samstag und Sonntag verbreitete sich der Funke der Wut sogar noch weiter und entzündete Massendemonstrationen und Szenen primitiver Gewalt in anderen Regionen des Landes, die einer neuen Bewegung allgemeinen Chaoses mit zahlreichen Akten der Rebellion und Riots in verschiedenen Städten den Weg ebneten. Sie legte in nur wenigen Tagen einen großen Teil der urbanen Infrastruktur durch Barrikaden, Vandalismus und Brandanschläge auf städtische Gebäude, Regierungsgebäude, Einkaufszentren und Gebäude der öffentlichen Medien in Schutt und Asche. Zu dieser Zeit hatte die Revolte sich bereits jeglicher spezifischer Forderungen entledigt, da sich Menschen mit diversen Hintergründen und von verschiedenen Orten auf den Straßen inmitten der Proteste und Riots gegenseitig fanden und einen gigantischen Riss in das neoliberale System Chiles und sein System kapitalistischer/ extraktivistischer [1] Ausbeutung, das das ganze Gebiet betrifft, sprengten.

Seit Sonntag, dem 20. Oktober erklärte die Regierung in den Städten, in denen Aufstände stattfanden, den Ausnahmezustand und verhängte Ausgangssperren, dennoch breiteten sich die Riots weiterhin entgegen der Verbote bis in die späte Nacht aus und zeigten, dass die Wut und Gewalt, die die Menschen gegen die herrschende Ordnung entfesselten, die Angst und Passivität, die seit Dekaden in großen Teilen der chilenischen Bevölkerung geherrscht hatte, gebrochen hatte.

Dritter Akt: Die Würde und der Kampf gegen die Strategie der staatlichen Repression

Seit Beginn des Ausnahmezustands verschärfte sich die staatliche Repression und verbreitete sich auch offen innerhalb der verschiedenen aufständischen Regionen.

Als Anarchist*innen wollen wir klarstellen, dass wir uns nicht in die Opferrolle begeben wollen, dennoch ist es immer gut, Informationen über die Strategien zu teilen, die die Herrschaft gegen die Aufständischen und die rebellische Bevölkerung im Allgemeinen anwendet.

Im derzeitigen Kontext umfasste das repressive Arsenal des chilenischen Staates folgendes:

  • Über 2000 Menschen wurden verhaftet und mehr als 15 Menschen wurden ermordet. Außerdem werden unzählige Menschen vermisst.
  • Der Beschuss von Demonstrant*innen mit verschiedenen Arten von Projektilen, darunter Tränengas, Gummigeschossen und andere Kriegswaffen, verletzt und tötet eine wachsende und unbestimmbare Zahl von Menschen auf den Straßen. Außerdem wurden Tiere und Menschen, die auf den Straßen leben, ebenfalls durch den Beschuss verletzt und getötet.
  • Physische und psychische Angriffe, sowie sexuelle Übergriffe und Folter gegen festgenommene Menschen auf öffentlichen Straßen, in Fahrzeugen und Polizeiwachen.
  • Entführungen von Menschen mit Polizeifahrzeugen und zivilen Fahrzeugen. Es kursierten Bilder von Menschen, die in den Kofferraum von Polizeifahrzeugen gesperrt waren.
  • Schüsse von hinten auf den Straßen gegen Menschen, denen die falsche Hoffnung gegeben wurde, dass sie einer Verhaftung entkommen könnten.
  • Gefälschte Genehmigungen, um Supermärkte zu plündern, die von Polizei und Militär erteilt werden und die in Verhaftungen und Ermordungen resultieren, die später zu Toten in Folge von Riots erklärt werden.
  • Feuer auf großen Firmengrundstücken, die von den Repressionsorganen gelegt wurden, damit die Firmen Geld von den Versicherung bekommen. In einigen dieser Feuer sind verbrannte Leichen entdeckt worden.
  • Menschen werden aus fahrenden Polizeiautos geworfen und dann erschossen.
  • Aufknüpfen der Körper getöteter Menschen auf unbebauten Flächen und Erhängung lebender Menschen in Polizeibarracken.

Die massive Nutzung von sozialen Netzwerken wie Instagram, Twitter und Facebook erlaubten die sofortige Verbreitung unzähliger audiovisueller Beweise der oben beschriebenen Situationen, die von sogenannten „alternativen“ Veröffentlichungsgruppen verbreitet werden, die den Kämpfen verbunden sind und die die von der Regierung entwickelte und von den öffentlichen Medien, die schon immer der Macht dienten, unterstützte Kommunikationsstrategie durchbrechen.

Die Kommunikationsoffensive der Regierung stellt einen anderen Teil der Repression dar, indem versucht wird, die Meinung der Menschen mit den folgenden Methoden zu beeinflussen:

  • Zensur und Kontrolle der Informationen, um heuchlerisch die Aufnahmen von Repression zu verbergen, zu rechtfertigen und/oder anzuzweifeln.
  • Im Fernsehen übertragene Reden von Regierungsvertreter*innen, in denen diese eine soziale Krise bemerkt haben, die nun mittels eines „neuen sozialen Vertrags“ gelöst werden soll.
  • Es wird explizit von einem Kriegszustand gegen eine*n interne*n Feind*in gesprochen, die*der angeblich den Plan verfolgen soll, Chaos zu säen und kleine Läden, Schulen und Krankenhäuser anzugreifen. Besonders viel Aufmerksamkeit hat mensch der Kriminalisierung der Plünderer*innen und Vandal*innen gewidmet. Außerdem wurde in einem Bericht im Staatsfernsehen erwähnt, dass die Riots von nihilistischen anarchistischen Zellen organisiert worden seien.
  • Eine beständige Berichterstattung während des ganzen Tages, die die Angst vor Nahrungsmittelknappheit wegen der Plünderungen schürt und die Idee verbreitet, dass die Diebstähle auch auf gewöhnliche Haushalte übergreifen würden.
  • Die Unterteilung der Demonstrant*innen in gute, legitime und friedliche Demonstrant*innen und gewalttätige, gegen die jede Form der Repression gerechtfertigt sei.
  • Die Präsentation eines Plans für ökonomische und soziale Maßnahmen, in dem Versuch Interesse für eine Lösung der existierenden Krise zu zeigen.
  • Die Darstellung des Militärs als Kräfte zum Schutz und für den Frieden.

Glücklicherweise hatte die repressive Kommunikationsstrategie der diskreditierten Regierung nicht den gewünschten Effekt und der Ungehorsam blieb trotz der Tatsache erhalten, dass einige ewig unterwürfige und gehorsame Bürger*innen mit der Macht zusammenarbeiteten, indem sie sich freiwillig an der Reinigung der Straßen und der Überwachung der Viertel beteiligten, indem sie gelbe Westen trugen und diesem Kleidungsstück eine vollständig andere Bedeutung gaben als die Revolte, für die es nach den wilden Protesten in Frankreich bekannt wurde.

Unsere Anarchistische Position: Notizen zu einem Nachspiel, das noch nicht existiert

Zwischen Mittwoch, dem 23. Oktober und Donnerstag, dem 24. Oktober versuchten sich die Regierung und die Repressionsorgane darin, ein freundlicheres Gesicht zu zeigen, angesichts der anhaltenden Demonstrationen und der großen Zahl an Ursachen für Aufstände, zu denen die dauernde Enthüllung von Beweisen für repressive Handlungen und das öffentliche Bekanntwerden einer als geheimes Gefangenenlager genutzten U-Bahnhaltestelle und Berichte, dass dort gefoltert würde, hinzu kamen.

Dieser Tage scheint es Anzeichen dafür zu geben, dass die allgemeine Revolte ein wenig an Intensität verliert, was vermutlich der Situation der tagelangen, permanenten Proteste mit ständigen Unruhen und Konfrontationen geschuldet ist. Einige von uns sind der Meinung, dass das dem Prozess einer fortschreitenden Befriedung den Weg ebnen könnte, in der einige Kessel der Revolte fortdauern und sich die selektive Repression gegen Menschen, die bereits für ihr Engagement in sozialen Bewegungen, Kollektiven und im Umfeld radikalen Kampfes bekannt sind, verschärfen könnte. Tatsächlich wurden Menschen mit Verbindungen zu studentischen und Umwelt-Bewegungen bereits verhaftet.

Ungeachtet dessen, was kommen wird, wissen diejenigen von uns, die schon lange vor dem aktuellen sozialen Ausbruch die Macht und Autoritäten angegriffen haben, dass all die oben aufgelisteten Praktiken der Repression und Kommunikation Teil des repressiven Arsenals sind, mit dem wir und andere Gruppen in der gesamten Geschichte des Staates und der Autoritäten konfrontiert waren. Heute werden wir Zeug*innen einer postmodernen Erneuerung von Methoden und Strategien, die bereits in früheren diktatorischen und demokratischen Regimen in Chile, Lateinamerika und dem Rest der Welt angewandt wurden, wenn die Interessen der Herrschaft gefährdet waren und sie nicht zögerte, ihr wahres Gesicht der geplanten und systematischen Unterdrückung zu zeigen.

Wir wissen, dass die Feindschaft und Angriffe auf die Herrschaft seit Jahrhunderten von unzähligen Generationen von Rebell*innen, Aufständischen, Revolutionär*innen und Subversiven jeder Art verfolgt wurden, ebenso wie wir die Gewissheit haben, dass wir, die Anarchist*innen zusammen mit den communities der Mapuche und der vermummten Jugend in den letzten zwei Jahrzehnten Folter, Knast und Tod als Teil der repressiven Politik des Staates angesichts des Widerstands und der anhaltenden Angriffe, die wir gegen die kapitalistische und autoritäre soziale Ordnung ausgeführt haben, erfahren haben.

Heute werden viele Menschen Zeug*in dessen, was wir seit Jahren verbreitet haben: Dass den Mächtigen Täuschung, Folter und Mord gelegene Mittel sind, um die Welt, die sie zu ihrem Profit errichtet haben, zu verteidigen, und dass der einzig mögliche Weg zu einem Ende der Herrschaft über unsere Leben mit einer zerstörerischen Rebellion gegen all das beginnt, was uns von denen auferlegt wurde, die versuchen, unsere Existenz zu einem Dasein als Sklave zu machen, die uns unsere Freiheit rauben.

Wir sind uns bewusst, dass alle Feinheiten der staatlichen Repression, sogar die, die vorgeben, wie ein „freundliches“ Gesicht auszusehen, Teil der Aufstandsbekämpfung sind, wie sie ursprünglich in Algerien eingeführt, in den Diktaturen Lateinamerikas verbessert und von Besatzungstruppen im Irak, in Haiti und anderen Teilen der Welt angewandt wurden. Wir wissen genau, dass massive und selektive Repression, Folter, Vernichtung, Versammlungen und Kommunikationsstrategien der psychologischen Kriegsführung keine Neuheit sind und wir leben und erleben diese heute in einem Szenario, das wir nie für möglich gehalten hätten: Wir führen unser tägliches Leben und unsere Kämpfe in einem Ausnahmezustand mit Militär auf den Straßen.

Wir wissen auch, dass die Existenz, die Ausbreitung und der Fortbestand anarchistischer Ideen und Praktiken der Konfrontation während der letzten Dekaden im chilenischen Gebiet ein echtes, lebendiges und dynamisches Element bildeten, das auf gewisse Weise zur Identifizierung von und zum Angriff auf Symbole und Ziele der Macht inmitten der derzeitigen Unruhen und zur Verbreitung einer radikalen, kämpferischen Subjektivität gegen die Welt des Kapitals und der Herrschaft beitrug. Dennoch müssen wir so ehrlich sein zu betonen, dass die Unzufriedenheit, die mit so unvergleichlicher Gewalt im demokratischen Chile ausgebrochen ist, einer allgemeinen Revolte ohne Anführer*innen entspricht, in der die anarchistischen Individualitäten nur eine der vielen Akteur*innen auf den Straßen sind.

Wir haben nie an die guten Absichten der demokratischen Lügen geglaubt, daher sind wir nicht überrascht, dass die repressiven Kräfte ihre Waffen auf Kinder, Alte und Tiere richten. Heute lernen wir auch, mit der Ausgangssperre zu leben, die unsere Mobilität und die Möglichkeit sich unter Freund*innen, Gefährt*innen und Affinitätsgruppen zu umarmen und miteinander zu teilen einschränkt.

Viele Emotionen und Empfindungen sind Tag für Tag und Minute um Minute miteinander verflochten: Wut, Ohnmacht, Nervosität und ein Quäntchen Angst erfüllt die Herzen und den Verstand vieler Menschen.

NICHTS IST ZU ENDE, ALLES GEHT WEITER

HEUTE MEHR DENN JE SETZEN WIR UNSEREN KAMPF GEGEN DEN STAAT, DAS KAPITAL UND JEDE AUTORITÄT FORT.

Sin Banderas Ni Fronteras

Dieser Text wurde ursprünglich am 26. Oktober 2019 bei mpalothia veröffentlicht. Diese Übersetzung ins Deutsche folgt der englischen Übersetzung, die bei Anarchists Worldwide veröffentlicht wurde.

Anmerkungen

[1] Extraktivismus bezeichnet in diesem Fall die Ausbeutung natürlicher Ressourcen (in Chile unter anderem beispielsweise Kupfer, Lithium und Gold), die dann auf dem Weltmarkt verkauft werden.

Deutsche Übersetzung: https://zuendlumpen.noblogs.org/post/2019/10/29/aus-chile-ein-anarchistischer-blick-auf-die-revolte-und-die-repression/

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